Heroische Literatur: Die Heldendichtung im Mittelalter
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Zum Begriff der Heldendichtung ...
Oft ist von (mittelalterlicher) Heldendichtung, vom Heldenlied die Rede. Was versteht man darunter? Nun, nähme man die Begriffe wörtlich, dann handelte es sich einfach um Dichtung, die über die Taten von Helden berichtet. Unter diesen Topos würden dann wohl sehr viele Werke fallen, haben doch beinahe alle Erzählungen in irgendeiner Form Helden zum Inhalt, soferne sie nicht Themen wie die Wachstumphasen des Eukalyptus zum Inhalt haben. Doch der Begriff der Heldendichtung meint Spezielleres, lässt Siegfried und Hildebrand gelten, nicht jedoch Lancelot und Willehalm. Seltsam, bedenkt man, dass die Taten der beiden letzteren Herren ebenso wie die der ersteren als nicht eben alltäglich bezeichnet werden können.
Also bedarf es wohl weiterer Merkmale, welches ein literarisches Werk zum Heldenlied machen. Dass es sich dabei nicht nur um eine Begriffsbildung neuzeitlicher Wissenschaft handelt, sondern dass es bereits im Mittelalter ein Bewusstsein für die Besonderheit derartiger Stoffe gab, die sich von anderen Stofftraditionen abhoben, soll hier betont werden. Hinweise darauf geben uns ja be- reits die berühmten ersten Zeilen des Nibelungenliedes, in denen die 'alten Mären' erwähnt werden, die 'viel Wunderbares berichten von den Taten der vergangenen Helden' und auch der Beowulf spricht am Beginn von denkwürdigen Taten der Dänenhelden aus der Vorzeit.
Interessant ist in unserem Zusammenhang auch ein Lied, das der deutsche Spruchdichter und Minnesänger Der Marner um die Mitte des 13. Jahrhunderts verfasst haben dürfte. In diesem Lied, in dem er sich in humorvoller Weise darüber beklagt, wie unter- schiedlich doch die Geschmäcker seiner Zuhörerschaft wären, und das wohl dazu diente dem Publikum sein Repertoire aufzulisten, um ihm die Programmauswahl für den unterhaltsamen Festabend zu ermöglichen, führt er einen guten Teil jener Stoffe auf, die wir heutzutage als heroisch bezeichnen.
Da werden unter anderem Kriemhilt und Siegfried erwähnt, Dietrich von Bern, Heime und Witige, König Rother, aber mit Egge und dem Sturm der Russen auch Stoffe, von denen wir nichts mehr wissen, die aber offensichtlich gut in den Kontext passten. Inter- essant ist auch, dass diese Stoffe (vom Minnesinger natürlich) neben dem Minnelied genannt werden - wohl ein Hinweis darauf, dass die Heldenlieder im deutschsprachigen Raum um diese Zeit tatsächlich noch als Lieder behandelt und somit beim Vortrage wohl gesungen wurden.
Was ist aber nun wirklich das Besondere an diesen angeführten Themenkreisen, das den Marner dazu bringt, sie zusammenzu- stellen. Anders gefragt: Warum findet sich weder Artus noch Karl der Große, noch die Geschichten von Alexander dem Großen in der Auflistung? Alte Geschichten sind es wohl, Geschichten die in eine Zeit zurückreichen, die von der Zuhörerschaft als heroisch empfunden wird, der Untergang der Burgunden, Dietrichs Verbannung durch Ermanarich, sein Exil am Hofe Attilas, wohl auch Beowulfs Kampf mit Grendel und dessen verständlicherweise ungehaltener Mutter, Waltharius Flucht vom Hunnenhof ... und aus der Betrachtung dieser Stoffe finden wir einige Merkmale, die einen Stoff in den Augen, besser in den Ohren mittelalterlicher Zuhörer zur Heldendichtung machten:
Erstens lässt sich ein Großteil der angeführten Geschichten in der Völkerwanderungszeit ansiedeln, also in jene Epoche vom vierten bis zum sechsten Jahrhundert, in dem sich bedeutende Umbrüche ergaben in deren Gefolge Westrom fiel und zahlreiche germa- nische Reiche auf ehemals römischen Boden entstanden. Dabei ist nicht die wirkliche Entstehungszeit einer Sage für die Einordnung in das Genre von Bedeutung - viele der erwähnten Erzählungen gehen auf einen historischen Kern aus jenem Zeitraum zurück, andere, wie die Siegfriedsage, sind vielleicht älteren oder jüngeren Datums - sondern die Tatsache, dass sie alle vorgeben in jener Epoche, in einer Vorzeit, der Zeit der Helden, zu spielen!
Die zweite Besonderheit der Heldenerzählungen ist, dass sie die Zeit, in der sie handeln vom tatsächlichen historischen Charakter befreien, sie mythisieren. Tatsächlich werden die Begebenheiten im Heldenlied zeitlich auf wenige Generationen konzentriert, ebenso besitzen sie einen gemeinsamen räumlichen Bereich, sodass alle diese Helden miteinander in Kontakt treten können, auch wenn ihre historischen Vorbilder (beispielsweise wird Theoderich im Heldenlied als der Dietrich von Bern und Neffe des Königs Ermanarich an den Hof Attilas verbannt, obwohl sie doch historisch sämtlich in unterschiedlichen Jahrhunderten beheimatet waren, etc.) keine Zeitgenossen waren. Schon manch mittelalterlichem Chronisten war, wie etwa um 1100 Frutolf von Michelsberg in seiner 'Chronico mundi', dieser Widerspruch aufgefallen, dies tat der Beliebtheit des Genres aber keinen Abbruch.
Als dritter Aspekt lässt sich noch anführen, dass sich die heroischen Stoffe nicht mit anderen Erzählwelten mischen. Die Ritter des formidablen König Artus, die doch überall ihre Schwerter und Lanzen und anderes mehr im Spiel haben, erscheinen an Etzels Hof ebensowenig, wie der große Karl oder die Helden Trojas. Anspielungen und Querverweise existieren nur innerhalb der Heldenlieder.
Die Beliebtheit dieser Heldendichtungen, die wohl auf mündliche Vorformen zurückgehen, zeigt sich darin, dass derartige Stoffe in literarischer Form wohl von karolingischer Zeit an (Einhart, Karls Biograph erwähnt, dass der Kaiser alte Heldenlieder aufschreiben ließ - reichlich Finderlohn wird dem geboten, der uns diese Handschriften, sollten sie tatsächlich existiert haben, auftreiben kann!) bis zum 16. Jahrhundert im deutschen Sprachraum verschriftlicht und vorgetragen wurden. Dass sich über einen so langen Zeit- raum die Formen änderten, in denen die Geschichten aufgezeichnt wurden, ist verständlich und so findet sie sich als kurzes er- zählendes Lied, als breitangelegtes Epos, als nordische Prosa-Saga, Ballade oder Theaterstück. Zäh wie die Helden waren auch die Stoffe, die über ihre Taten berichteten, so könnte man sagen ... und neuerdings erleben sie ja die Wiederauferstehung auf der Leinwand.
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