Literarische Kunstgriffe: Kalkulierte Unbestimmtheiten als Stilelemente im Nibelungenlied
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Uns ist in alten mæren ...
Mit diesen berühmten Worten setzt einer der bedeutendsten literarischen Großtexte des Mittelalters ein. Zumindest tut er dies in manchen Fassungen, ist die sogenannte Programmstrophe, die uns von den 'alten Geschichten' berichtet, doch ursprünglich nicht Bestandteil etwa der bedeutenden Handschrift B, sondern dieser erst nachträglich vorangestellt. Was aber könnte zu einer derartigen Ergänzung bewogen haben? Müssen wir sie als Hinweis darauf verstehen, wie fremdartig und altertümlich dieses Epos bereits den Zeitgenossen des frühen 13. Jahrhunderts erscheinen musste?
Denn einem adeligen Publikum, dem die Erzählungen um die ideale Hofführung des guten König Artus und seiner strahlenden Ritter, dem höfische Aventiuren und Feengeschichten oder aber auch Heiligenviten und -legenden geläufig waren, dem musste die blutrünstige Geschichte um den Hort und Kriemhilds Rache wahrlich altertümlich vorkommen; nicht wegen des vergossenen Blutes - solches wissen auch die Herren Gawein, Iwein und Lancelot zu vergießen, und zwar mit ungleich größerer 'courtoisie' - sondern vielmehr ob des scheinbar unabänderlich vorgegebenen, schicksalhaften Ablaufes hin zum allgemeinen Untergang ...
Das erinnert mehr an antike Tragödien oder an altgermanische Heldendichtung, denn an zeitgleiche ritterlich-christliche Literatur - alte mæren eben! Diese bedrohliche Fremdartigkeit können auch höfische 'Einsprengsel', kann auch ein Rüdeger von Bechelaren, der an Artus Tafelrunde gut aufgehoben wäre, nicht wesentlich lindern. Unterzieht man das Epos einer genaueren Betrachtung, offenbaren sich an vielen Stellen solche Brüche zwischen Altem und (den Sagenkomplexen überlagertem) Neuem. Eine Dichtung, um das beginnende 13. Jahrhundert so in Schriftform gesetzt, dass sie bewusst archaisch wirkt?
Betrachtet man die Methoden, deren Einsatz die spezielle Wirkung hervorruft, den das Epos auf den Leser (eigentlich wohl Hörer) ausübt, dann offenbaren sich eine ganze Reihe von Stilmitteln, die vom unbekannten Dichter (oder von den Dichtern) in gekonnter Weise eingesetzt wurden. Wir werden auf diese unterschiedlichen Stilmittel nach und nach zurückkommen; in diesem Beitrag wollen wir das Augenmerk auf gezielt positionierte Unbestimmtheiten lenken, Doppeldeutigkeiten, die viel dem Interpretationsspielraum überlassen, ...
... die aber möglicherweise beim ersten Hören recht harmlos wirken. So etwa, wenn Hagen nach der angenommener Einladung durch Siegfrid und Kriemhild zu jenem Fest in Worms, bei dem der Streit der Königinnen die unheilvollen Ereignisse wieder in Gang bringen wird, die vorausgesandten, äußerst wertvollen Geschenke der Xantener mit dem Hinweis belegt, dass es Siegfried leichtfalle, solche Kostbarkeiten aus dem unerschöpfbaren Niebelungenhort zu schenken. Und dann fortfährt (743):
'....
hort der Nibelunge beslozzen hât sîn hant.
hey sold er komen immer in der Burgonden lant!'
Es ist da vom Nibelungenhort die Rede und von dem, der ihn besitzt. 'Wenn er doch nur einmal ins Land der Burgunden käme!', seufzt Hagen. Wen aber meint er damit? Siegfried? Den Hort? Warum wünscht er das? Um Widersehen zu feiern? Oder um den Hort zu bestaunen? Oder sind, dieser Gedanke schiebt sich uns, die wir den tragischen Fortgang der Geschichte und mit ihm des Waffenmeisters Charakter ja bereits kennen, ins Bewusstsein, oder sind hier bereits Hagens spätere Vergehen angedeutet, indem er mit dem Mord an Siegfried schließlich auch Zugriff auf den Schatz erhalten wird. Plant er vielleicht bereits jetzt?
Nichts weiter als eine kurze Strophe, die für sich allein betrachtet harmlos wirkt und auf deren Inhalt in Folge auch nicht näher eingegangen wird - setzt das Epos doch unmittelbar mit den Festvorbereitungen und der ehrlichen Freude der Burgunden fort; uns versetzen die wenigen Worte Hagens aber in Ungewisse, sodass wir uns nicht mehr recht auf das Festereignis zu freuen vermögen. Kalkulation des Autors?
Später, viel später, nämlich ganz am Ende, an Etzels Hof, als von all den stolzen Recken nur noch wenige leben - Dietrich, Hildebrand, Hagen und Gunther, doch die sind verwundet und gefangen - und Kriemhild ihre ersehnte Rache vor Augen hat, wird diese Agieren mit Ungewissheiten in höchster Raffinesse verwendet. Die nach Vergeltung gierende Kriemhild und Hagen, blutend, doch immer noch unbeugsam, liefern sich hier ein Duell an Andeutungen:
'welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen,
sô muget ir noch wol lebende heim zen Burgunden komen.'
...
bietet da (2367) Kriemhild dem Gefangenen vordergründig eine Gelegenheit zur Rettung seines Lebens. Doch es ist nicht nur der Hort, den ihr Gunthers Gefolgsmann geraubt hat, auf den sich ihre Worte beziehen lassen; auch den Ehemann hat ihr Hagen geraubt, indem er ihn erschlug, und den - er weiß es! - kann er ihr nicht wiedergeben. Das Angebot ist nicht echt, er wird Etzels Hof nicht mehr lebend verlassen! Darum erwidert er ihr auch trotzig, indem er, ebenso scheinbar nur auf den Hort Bezug nehmend, antwortet (2368):
... jâ, hân ich des gesworn,
daz ich den hort iht zeige, die wîle daz si leben
deheiner mîner herren, sô sol ich nieme geben.'
Teufel auch, was hat ihn da geritten? Er gäbe den Hort nicht preis, solange auch nur einer seiner Herren noch lebe - liefert er da nicht Gunther ans Messer! Wo doch Kriemhild die zweideutige Antwort genau nach ihrem Sinne auslegt - von Hagen so gewollt? Ein letzter Triumph über die rachsüchtige 'Teufelin', die so oder so nicht auf ihre Vergeltung verzichten wird? Oder ist er doch nur der allzeit treue Gefolgsmann, der das Gut seiner Herren niemals preisgeben wird, egal was dies im Endeffekt auch kostet? Wenn's auch Gunthers Leben selbst ist?
So ist dieses kalkulierte Spiel mit Unklarheiten und Missverständlichem neben vielen anderen Stilelementen verantwortlich für die stets bedrohliche Stimmung, die das Nibelungenepos auszudrücken imstande ist. Recht schnell versteht ein jeder Leser (Hörer), wie hier eine Tragödie unablässig ihren Lauf nimmt ...
Weitere Kniffe und Stilmittel gefällig, die dem Epos seine unverwechselbare Prägung geben? Wir werden demnächst fortsetzen - versprochen!
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