Bestiarium: Der wilde Mann im Iwein
Unser Bestiarium bekommt Zuwachs: Nachdem wir uns mit dem Waldweib Ruel zuletzt dem weiblichen Teil aussehensauffälliger Gestalten der mittelalterlichen Literatur gewidmet haben, ist diesmal ihr männliche Pedant, der wilde Mann aus Hartmann von Aues 'Iwein' an der Reihe. Schließlich wollen wir hier keinesfalls den Eindruck vermitteln, eberhauerartige Zähne, unförmige Gliedmaßen und originelle Gesichtszüge wären in den ritterlichen Aventiuren der damaligen Autoren als Attribute alleine der Weiblichkeit reserviert!
Die Herren Literaten verstanden es nämlich sehr wohl, an anderer Stelle die Schönheit der dankenswerterweise so zahlreich auftretenden (meist) züchtigen und tugendsamen Maiden gebührend zu feiern. Und zugleich auch das eine oder andere männliche Ungeheuer dramaturgisch raffiniert in die Handlung zu placieren. Um eine solche Ungeheuerlichkeit wollen wir uns mit dem heutigen Textausschnitt kümmern - dem Geschöpf nämlich, dem der Artusritter Kalogreant inmitten einer Schar wild sich streitender Auerochsen und Wisente und anderer Geschöpfe des Waldes begegnet, und dem sich dieser als der Herr all dieser Geschöpfe zu erkennen gibt.
Alles andere als ein vertrauenswerter Zeitgenosse, werdet ihr sagen, wenn ihr erst die Beschreibung dieses wilden Naturburschen, der natürlich keine Ahnung von höfischen Benimmregeln hat, gelesen habt - und damit seid ihr nicht alleine: Schließlich zittern selbst die ungebärdigsten seiner animalischen Gefährten vor der Macht seiner Glieder und seiner Worte. Doch hört selbst, wie ihn uns der wackere Rittersmann schildert ...
Zurück zur Übersicht Mittelhochdeutsch, zum Anschlagbrett, oder zur Hauptseite
Iwein (421ff.)
....
Als ich ihm aber näher kam
und ich seiner recht gewahr wurde,
da fürchtete ich ihn so sehr
wie die Tiere oder sogar noch mehr.
Sein menschliches Aussehen
war doch äußerst wild.
Er glich einem Mohren,
riesig und so schrecklich,
dass es niemand glauben würde.
Wirklich war sein Schädel
größer als der eines Auerochsen.
Der rohe Kerl hatte
struppiges, rußfarbenes Haar,
das war ihm ganz und gar
verfilzt bis an die Haut,
auf dem Kopf und am Bart.
Sein Antlitz war gut eine Elle breit,
von tiefen Runzeln durchzogen.
Zudem waren ihm die Ohren
wie einem Waldschrat
richtiggehend vermoost
mit spannenlangem Haar
und breit wie eine Trog.
Dem ungeschlachten Burschen
waren Bart und Brauen
lang, borstig und grau;
die Nase, ochsengroß,
kurz, breit und an keiner Stelle bloß;
das Gesicht ausgezerrt und flach
(-oweh, wie schrecklich sah er aus! -)
Die Augen rot, zornglühend.
Der Mund reichte ihm
beiderseits bis in die Wangen
weit hinein.
Er hatte mächtige Hauer
wie ein Eber, nicht wie ein Mensch.
Vor den Mund
ragten sie hervor,
lang, scharf, groß und breit!
Der Kopf war ihm so gestaltet,
dass ihm sein borstiges Kinn
an die Brust gewachsen schien.
Sein Rücken wölbte sich nach oben,
höckrig und gekrümmt.
Er trug eine seltsame Kleidung:
Zwei Häute hatte er angelegt,
die hatte er erst vor Kurzem
zwei Tieren abgezogen.
Er trug einen so großen Kolben,
dass mich seine Nähe ängstigte.
....
Iwein (421ff.)
....
Dô ich im aber nâher quam
und ich sîn rehte war genam,
dô forht ich in alsô sêre
sam diu tier ode mêre.
sîn menschlîch bilde
was anders harte wilde.
er was einem môre gelîch,
michel unde als eislîch
daz ez niemen geloubet.
zwâre im was sîn houbet
grôzzer danne einem ûre.
ez het der gebûre
ein ragendez hâr ruozvar;
dat was im vaste und gar
verwalchen zuo der swarte
an houpte und an barte;
sîn antlutze was wol ellen breit,
mit grôzzen runzen beleit.
ouch wâren im diu ôren
als einem walttôren
vermieset zwâre
mit spanne langem hâre,
breit als ein wanne.
dem ungefuegen manne
wâren gran unde brâ
lanch, rûch unde grâ;
diu nase als einem ohsen grôz,
kurz, wît, niender blôz;
daz antlutze durre unde flach
(ouwî wie eislîche er sach!)
diu ougen rôt, zornvar.
der munt het im gar
bêdenthalp den wangen
mit wîte bevangen.
er was starch und gezan
als ein eber, niht als ein man:
ûzzerhalb des mundes tur
dâ ragent sî her fur,
lanch, scharpf, grôz, breit.
im was daz houpt sô geleit
daz im sîn rûhez kinnebein
gewahsen zuo den brusten schein.
sîn ruoke was im ûf gezogen,
hoveroht und ûz gebogen.
er truoc an seltsæniu cleit:
zwô hiute het er an geleit,
die het er in niuwen stunden
zwein tieren abe geschunden.
er truoc einen kolben als grôz
daz mich dâ bî im verdrôz.
....
Anmerkungen:
Und danach, fragt ihr? Was wird wohl so ein ungehobelter Klotz mit einem adeligen Herumstreifer anstellen? Ausnahmsweise nichts Schlimmes, können wir euch beruhigen. Denn obwohl die mittelalterliche Denkweise und somit auch Literatur meist einen Zusammenhang zwischen inneren Werten und äußerlichem Aussehen postuliert (praktisch, sind derartig die Schurken doch relativ einfach zu erkennen - ähnlich wie im amerikanischen Western, wo die Bösen lange Zeit stets dunkle Hüte trugen; uns unbedarften Lesern ermöglicht diese Orientierungshilfe eine rasche Parteinahme ...), zeigt sich dieser Waldmensch - anders als die früher geschilderte Ruel - unserem Erzähler gegenüber gutartig ('swer mir niene tuot, der sol ouch mich zu friunde hân.').
Ein wenig neugierig vielleicht und in gänzlicher Unkenntnis höfischer Sitten (schockierend! So weiß er nicht, was denn eine Aventiure wäre und wozu sie gut!) Immerhin verhilft er dem ruhmesgierigen Kalogreant zu einer solchen, indem er ihm den Weg zu einem Brunnen weist, einem Brunnen, der von wunderlicher ... aber das ist schon wieder eine andere Angelegenheit, der wir uns in einem eigenen Beitrg widmen wollen.
Uns bleibt zum Abschluss nur eins noch als tiefsinnige Erkenntnis mitzunehmen: Beurteile einen Menschen, ein Ungeheuer oder was auch immer niemals nur nach seinem Aussehen. Nie! Außer, es handelt sich um ein sehr hübsches, blutjunges, verführerisch mit den Wimpern klapperndes Mägdelein. Im mittelalterlichen Versepos! Denn in selbigem sind diese allesamt gütig, dem Helden stets zugeneigt und allergrößter Beachtung wert ...
Zurück zur Übersicht Mittelhochdeutsch, zum Anschlagbrett, oder zur Hauptseite
© 2014, Gestaltung und Inhalt: H. Swaton - alle Rechte vorbehalten