Bestiarium: Die Plathüever des Herzog Ernst
Wenn einer eine Reise tut, dann weiß er hinterher eine Menge zu erzählen. Diese Binsenweisheit erlangt umso mehr Wahrheitsgehalt, je exotischer die Gefilde sind, in die es den Protagonisten dieser Reise verschlägt. Welch seltsame Begegnungen einem auf solch einer Fahrt über die Grenzen des Bekannten hinaus widerfahren können, davon weiß vor allem der titelgebende Held in der mittelhochdeutschen Reimerzählung 'Herzog Ernst' nur zu gut zu berichten.
Die mittelhochdeutsche Textfassung B, so wie wir sie heute um billiges Geld erwerben können, ist vermutlich knapp vor 1180 entstanden - in einer Hochzeit des (staufischen) Rittertums also, in einer Zeit des stärker ausartenden staufisch-welfischen Gegensatzes, in einer Zeit der Kreuzzüge - aber, so wissen wir, es ist nicht die erste Fassung. Briefe, in denen um ein Abschriftsexemplar der 'Geschichte des deutschen Buches von Herzog Ernst' schon früher gebeten wird machen dies deutlich, ebenso Hinweise auf ältere lateinische Fassungen. Spuren, die auf eine bis ins 11. Jahrhundert zurückgehende Volkssage verweisen ...
Noch überraschender erscheint uns jeduoch der Umstand, das sich die besagte Geschichte um den sich gegen den Kaiser empörenden jugendlichen Herzog bis in die Neuzeit in ununterbrochener Tradition, in Volksbüchern und unzähligen Variationen erhalten hat - anders etwa als die Klassiker Parzival, Tristan und Isolde, die erst wieder von den Romantikern wiederentdeckt werden mussten.
Einen nicht unwesentlichen Grund für die ungebrochene Beliebtheit der Geschichte stellt mit großer Sicherheit das fremdländisch-orientalische Flair dar, dem der dem Kaiser unterlegene Ernst auf seiner ursprünglich als Kreuzzug intendierten Reise begegnet. Natürlich - wie sollte es anders sein, denken wir doch an Odysseus, denken wir an Sinbad - verschlägt es unseren wackeren Recken samt seine allzeit Getreuen an fremde, vom typisch welterfahrenen mitteleuropäischen Ritter noch nie gesehene Gestade.
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Herzog Ernst (4699 ff.)
....
Dem König von Arimaspi
waren seltsame Leute benachbart:
Sie wurden Platthufe genannt
und schadeten seinem Land
und verwickelten ihn häufig in Kämpfe.
Sie hatten sehr breite Füße,
die jenen von Schwänen glichen.
Sie übten große Macht
über Wälder und Sümpfe aus.
Sie trugen keinerlei Schuhwerk.
Wenn ein Unwetter drohte,
legten sie sich auf die Erde
und hoben einen Fuß über sich.
Das war schon seltsam!
Wurde ihnen das Unwetter lang,
dann wechselten sie den Fuß,
sobald ihnen der eine müde wurde.
So waren sie beschirmt
dass ihnen niemals
ein Unwetter schaden konnte.
....
Herzog Ernst (4699 ff.)
....
Dem künic vom Arimaspî
sâzen wunderlîche liute bî:
Plathhüeve waren sie genant
und tâten im schaden in sîn lant
und brâhten in dicke in arbeit.
den wârn die füeze vil breit
und alsô den swanen gestalt.
die fuorten grôzen gewalt
über hart und über bruoch.
sie truogen keiner slahte schuoch.
swann ungewiter wolde werden,
sô leite er sich ûf die erden:
so hebet er einen fuoz über sich.
daz was genuoc wunderlich.
so im daz weter lange war,
den andern fuoz hebte er dar,
sô im dirre muode wart.
alsô wâren sie bewart
daz in ze keiner stunde
kein weter geschaden kunde.
....
Anmerkungen:
Aber was wäre Paris ohne die Pariser, Neapel ohne die Neapolitaner? Der Südpol ohne Pinguine? Und was schon ein unbekannter, mythengetränkter Orient ohne ..., richtig, ohne jene seltsamen Orientalen, von deren Existenz und Absonderlichkeiten man spätestens seit Alexanders Feldzügen Bescheid weiß. Eine ganze Menge gibt es davon, und - ihr dürft mir glauben! - einer seltsamer als der andere. Eine richtige Auflage also, mit diesen kauzigen Typen unsere Bestiarium anzureichern.
Wer von uns hätte sich nicht schon einmal höllisch über einen misslungenen Wetterbericht geärgert, wenn er denn abends, sommerlich bekleidet und gerade am Heimweg befindlich, schirmlos eine zweite Sinflut auf sich niederprasseln lassen musste. Die Plathüeve nun, eines jener originellen Völkleins, denen unser Herzog auf seiner Orientfahrt begegnete und von denen im vorliegenden Beitrag die Rede ist, kennen dieses Problem nicht! Nie kommen sie in die Verlegenheit, mit einem schnellen Griff in den Schirmständer am Lokaleingang die eigene Nachlässigkeit kompensieren zu müssen.
Denn dank ihrer überdimensionierten - manche meinen sogar schwanenförmigen - untersten Extremitäten, genügt es ihnen, sich beim Aufziehen eines Unwetters gemütlich auf den Rücken zu legen (was jedoch unsereinem bei Blitzeinschlägen in der Nachbarschaft nicht zu empfehelen ist!), eines ihrer Beine in die Höhe zu recken und während der nachfolgenden Sohlenmassage entspannt dem Plätschern des Regens zu lauschen.
Doch halt - schreibt nicht Isidor von Sevillas in seiner Enzyklopädie, schreibt nicht zuvor schon der 'Physiologus' auch von einbeinigen Platthufen, Monocoli also? Und was hat es mit den klassischen Bezeichnungen Sciapoden (Schattenfüßer) beziehungswieise Scenopoden (Zeltfüßer)auf sich? Wohl dies, dass unsere Breitfüße im Orient, Indien und Äthiopien, wo sie die Griechen heimisch glaubten, eher mit der sengenden Sonne denn mit Regen zu kämpfen hatten und ihre unteren Quadratmeter somit für gewöhnlich zur Schattenerzeugung verwendeten ...
Klingt ja bislang alles recht gemütlich: Ein verschrobenes Völklein, das es sich gut gehen lässt. Nur nicht täuschen, werte Leserschaft. Vorsicht! Die Platthueve sind, wie uns Herzog Ernst äußerst glaubhaft versichert, ziemlich fiese Kerle, denen nicht nur auf der Tanzfläche mit äußerster Vorsicht zu begegnen ist! Immerhin hat der gute Herzog in rechter Rittersart die meisten von ihnen ja auf der Walstatt massakriert, wodurch wir uns zumindest in nächster Zeit nicht allzusehr um ihren übermuot sorgen müssen ...
Aber was hat es nun mit den beiden Beinen oder nur mit dem einzigen auf sich? Warum differieren dazu die Angaben in der Literatur? Nun, weil - so mutmaßen wir - Isidor als typischer Stubengelehrter viel an Wissen zusammengetragen hat - und da mag sich mitternachts in der Hafentaverne schon das eine oder andere an Übertreibung und an Ungenauigkeit einschleichen - ohne jemals selbst die betreffenden Länder bereist zu haben. Ganz anders unser Herzog - der hat's mit eigenen Augen gesehen ...
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