Saelde und Ere - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Bestiarium: Das wilde Waldweib Ruel im Wigalois

Verwilderter Waldmensch, Ausschnitt eines Wandteppiches, der Szenen der Mär 'Der Busant' darstellt, Ende 15. Jhdt.

Des Bestiariums zweiter Streich - und ausgerechnet eine Vertreterin des zarten Geschlechts, dessen Vertreterinnen doch zweifelsohne stets unsere bessere Hälfte darstellen, soll sich dafür hergeben müssen? Wo es doch in den mittelhochdeutschen Aventüren und Mären sonst immer die süezen vrouwelin, die aufreizenden Fräulein sind (wir wollen uns nicht der - fast hätten wir gesagt, der dämlichen - Zeitmode anschließen, die diesen schöne Wort verbieten will; für uns bleibt das Fräulein ein Fräulen, punktum!) die dem Helden begegnen, die schönen Damen, vielleicht auch noch die liebreizende Schäferin.

Seien wir uns ehrlich: Gerade diese Begegnungen sind es, die das Salz in der täglichen Heldensuppe ausmachen, natürlich neben dem obligaten Harnischverbeulen, Lanzenbrechen, und abends - nach ausgiebigem, eigenhändig von den Jungfrauen der gastgebenden Burg im rosenblätterduftenden Zuber bereiteten Bad - ausgiebig zechen und feiern. Nun ja, soviel hat sich ja gar nicht geändert bis auf den heutigen Tag - vielleicht fehlen die Rosenblätter, das mit den Jungfrauen wird vielleicht nicht mehr so genau genommen, aber sonst ....

Umso schlimmer, wenn einer dieser herzensguten, manchmal vielleicht etwas tumben Rittersmänner nichts Böses ahnend auf seinem fröhlichen Rösslein durch den Wald trabt und dabei einem Weiblein begegnet, das obigem Bild so gar nicht recht entsprechen will. Einerseits, weil die besagte Dame nun so gar nicht dem Schönheitsideal der Zeit genügen kann - um dies zu verdeutlichen hat sich der Dichter des Wigalois, Wirnt von Grafenberg mit seinen Versen ja recht ordentlich ins Zeug gelegt, wie ihr unterhalb gleich nachvollziehen könnt:

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Wigalois (6285ff.)

....
Aus der Höhle sah er
eine Frau ihm entgegenlaufen,
die war durchgehend
schwarz, behaart wie ein Bär.
Außergewöhnliche Schönheit waren ihr
und feines Benehmen fremd,
denn sie war abscheulich.
Ihr Haar, offen und lang,
fiel es auf ihre Hüften herab.
Der Schädel groß, die Nase flach.
Aus behaartem Gesicht schaute die Frau,
als ob dort zwei Kerzen brennten.
Ihre Brauen lang und grau,
große Zähne, breiter Mund.
Zwei Ohren hatte sie wie ein Hund,
die hingen eine Spanne breit herab.
....
Ihr Rücken war gekrümmt,
vorne wölbte sich ein Höcker
wie ein Hut über ihrem Herzen.
....
Ihre Brüste hingen herab;
sie umfassten ihre Seiten
wie zwei große Taschen.
Sie besaß Klauen wie ein Greif
an allen Fingern.
Rosige, weiche Handballen,
wie man sie an schönen Damen sehen kann,
wähne ich, hatte sie nicht:
Ihre waren hart wie die eines Bären.
Wem immer sie ihre Liebe schenken sollte,
dem wär das ein saures Turteln.
....
Die Frau erschien ihm herbe,
kräftige Beine, krumme Füße
hatte sie, so war sie beschaffen.
Ein kurze Nacht machte einen jeden alt,
der bei ihr gelegen wäre,
so süße Minne wusste sie zu spenden.
Sie wurde die starke Ruel genannt
und war so furchterregend schnell,
dass ihr kein Tier entrinnen konnte.
....

Wigalois (6285ff.)

....
Ûz dem hole sach er eine
wîp gegen in loufen dar,
diu was in einer varwe gar
swarz, rûch als ein ber.
vil grôziu sch?ne was der
und guot gebærde tiure,
wan si was ungehiure:
ir hâr enpflohten unde lanc,
zetal in ir buoc ez swanc.
daz houbet grôz, ir nase vlach.
daz wîp ûz grôzer riuhe sach
als zwô kerzen brünnen dâ.
ir brâ lanc unde grâ,
grôze zene, wîten munt;
zwei ôren hêt si als ein hunt,
diu hiengen nider spanne breit.
....
der rücke was ir ûf gebogen,
dâ engegen ein hover ûz gezogen
ob dem herzen als ein huot.
....
ir brüste nider hiengen;
die sîten sie beviengen
gelîch zwein grôzen taschen dâ.
als ein grîfe hêt si klâ
an den vingern allen.
rôt und linde ballen
die man an sch?nen vrouwen siht,
ich wæne wol dern hêt si niht:
sie wârn ir herte als einem bern.
swen si ir minne solde wern,
daz wær ein sûrez trûten.
....
Daz wîp dûht in unsüeze:
starkiu bein, krumbe vüeze
hêt si, sus was si gestalt.
ein kurziu naht diu machet in alt
swer bî ir solde sîn gelegen;
so süezer minne kunde si pflegen.
sie hiez diu starke Ruel
und was sô vreislîche snel
daz ir dehein tier entran.
....

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Anmerkungen:

Zwar wissen wir: Das Aussehen kann täuschen und nur von Äußerlichkeiten sollte man sich nicht blenden lassen, wenn es darum geht einen Menschen, egal ob Mann oder Frau, zu beurteilen. Klar. Recht auch so! Aber ...

... Aber? Aber nun ist es so, dass in der mittelalterlichen Literatur das Aussehen der darin auftretenden Figuren in beinahe allen Fällen mit ihrem Charakter korrespondiert: Schurken sehen aus wie Schurken (ja ja, damals waren die Zeiten noch einfacher; da hätten auch Nadelstreif und Krawatte nicht ausgereicht, um ein böses, gieriges Inneres zu verbergen)! Zumindest dann, wenn eine dieser Figuren missgestaltet ist, weiß der erfahrene Leser, dass nun Vorsicht angebracht ist! Man müsste dem mittelalterlichen Helden also mit auf den Weg geben, werde stets nur den hübschesten jungen Dingern zum Gast, denn die sind nicht nur ansehnlich, sondern immer auch herzensgut! Und mit einer ansehnlichen Herrschaft ausgestattet ...

Und damit sind wir beim Andererseits angelangt: Herzensgut - dieses Adjektiv kennt die in diesem Artikel vorgestellte Vertreterin des weiblichen Geschlechts, die starke Ruel, höchstens vom Hörensagen! Abgrundtief hässlich, wie uns der Autor versichert, haust die haarige Bestie inmitten des Waldes (und wird alleine durch diesen Wohnort schon als außerhalb der höfischen Regeln stehendes und ihnen damit nicht gehorchendes Individiuum charakterisiert), ernährt sich dort von wildem Getier, und erschlägt einen jeden Ritter, der ihr zwischen die klauenartigen Finger gerät.

Gut, Wirnt gesteht ihr immerhin einen Grund zu, warum sie denn einen solchen Groll auf die Eisenmänner hegt - ist doch ihr Mann, Feroz, im Zweikampf mit einem solchen Recken ums Leben gekommen; ein Umstand, den sie nun an allen Vertretern dieses Standes rächen will. Aber, meine Dame, muss man es dabei gleich so schlimm treiben? Schließlich ist unmaze eine Eigenschaft, die man in diesen Zeiten (und nicht nur in diesen) kaum positiv zu schätzen weiß!

Zumal der Held unserer Erzählung, besagter junger Wigalois, bei der Begegnung mit ihr alleine deshalb so in Bedrängnis gerät, weil er, der höfischen Regeln achtend, das Schwert nicht gegen eine Frau ziehen will und um ein Haar darum seinen Kopf verliert - wäre da nicht sein teures Ross gewesen. Aber das ist eine andere Geschichte, die ihr selbst im Original nachlesen solltet.

Nur soviel sei euch noch zu Warnung verraten: Das böse Weib entrinnt seiner Bestrafung - seid also vorsichtig, wenn ihr euch demnächst in den Wald begebt, damit ihr nicht ein ähnliches Trauma erleben müsst, wie unser Held ...

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