Diu Crône - Kussszene
Da soll doch noch einmal einer von verstaubten mittelalterlichen Texten sprechen: Der folgende Ausschnitt stammt aus dem ge- waltigen, 30038 Verse umfassenden Werk Diu Crône des Heinrich von dem Türlin (zu den Anmerkungen) und schildert eine Kuss- szene zwischen einem Ritter und seiner Dame in äußerst anschaulicher Weise.
(An dieser Stelle möge noch eine Warnung ausgesprochen sein: Wegen der sehr ausführlichen Schilderung eignet sich der folgende Textabschnitt nicht für Leser in jugendlichem Alter ... andererseits, vielleicht kann man ja noch einiges daraus lernen ;-)
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Diu Crône (26398ff.)
...
Eine treue Empfindung einte die zwei
sie hatte sich
über ihn gelehnt, wo er lag:
mit Küssen nahm sie sich des Reckens an
und desgleichen er ihrer:
Aber nicht etwa ein-,
sondern es war wohl tausendmal,
dass ihrer beider Mund
gleichzeitig heiß und feucht
und ihre Herzen erleuchtet wurden
vom Gefährten der Liebe. Wer diese Wonne
einer reinen Frau nicht gönnte,
so dass ihr dies nicht zuteil werde,
dessen Glück würde Gott lähmen.
Was sollte er dagegen tun?
Ich glaube, dass er es nicht abgebrochen hätte
das einmal begonnene Küssen,
das ihr reiner, süßer roter Mund
von seinem Mund empfing.
Keiner von beiden hatte es eilig abzulassen,
wenn ein Mund den anderen bedeckte
und jeder des anderen Atem schmeckte:
sie konnten nicht anders verschlossen werden
die Münder, halboffen wie sie waren.
Ein Druck belebte die Glut,
bald sanfter und zurückhaltender,
und doch die Münder niemals trennend;
wenn nun noch ein Umfangen dazukam,
ein zartes, mit der rechten Hand,
das ihr Kinn zu seinem zog,
und die Linke den Leib umfangen hielt,
und die schöne, süße Frau
teilweise über ihn geneigt,
unten an seinem Körper
Druck ausübte,
und ihre Hände voll süßen Verlangens
ihn umfassten:
und beide unzertrennlich aneinander hingen,
sie unter ihm und er obenauf.
Bewegte sie sich nun ein wenig nach vor,
so dass er ihr folgen musste,
so achtete sie darauf, dass
dies nicht zu schnell geschehe,
damit sie nicht etwa getrennt würden,
während ihre Blicke,
ganz offen und nicht etwa heimlich,
aneinander hingen.
...
Diu Crône (26398ff.)
....
Ein triuwe, diu zwei einet,
diu hâte sich geleinet
über in, dâ er lac:
mit küssen si des recken phlac
und er ir sunder twâle:
ez was niht zeinem mâle,
jâ, ez was wol tûsentstunt:
dâ von ir iegelîches munt
wart erhitzet und erviuhtet
und beider herze erliuhtet
von minne gereis. Der wünne
swer reinem wîbe verbünne,
daz ir niht geschæhe alsam,
den tuot got sælden lam.
Wie tete er, daz nie sô geschach?
Ich wæne er niht abe brach
des küssens sô er ez ir bôt,
und ir reiner süezer munt rôt
ez von sînem munde emphie.
Ir iegelichez niht gâhe lie,
sô ein mund den andern dacte
und einz des andern âtem smacte:
sie mohten niht sîn verspart
ein teil, sô offen wart.
die hitze erquickent was ein druc
dâ senfter und ein widerzuc,
der doch die münde niht enschiet;
ob ein vâhen dar zuo geriet
lindez mit der rehten hant,
daz diu kinne zesamene bant,
und disiu hant gurte ir lîp:
ouch sô was daz reine süeze wîp
über houpt ein teil geneiget,
und wart niden erzeiget
an sinem lîp ein druc von ir,
und ir hende von süezer gir
sînen lîp umbviengen:
und ungescheiden hiengen
si under ime und er embor,
und weich si ime ein lützel vor,
daz er ir muoste volgen nâch
über houpt, und liez ir niht ze gâch
sîn, daz siz niht zevüerte,
und einz daz ander spüerte
gelîche mit den ougen,
gar offen und niht tougen
in einander gehaft.
...
Anmerkungen:
Die Krone des Heinrich von dem Türlin dürfte knapp vor 1230 entstanden sein und stellt eine gewaltige, eigenständige Komposition des Autors dar. Er selbst bezeichnet seine Dichtung wenig bescheiden als ... diu krône, die mine hende nâch dem besten gesmit hân ... (die Krone, die meine Hand nach den besten Vorlagen geschmiedet hat), während Rudolph von Ems sie als aller âventiure krône nennt.
Ob des bairisch-österreichischen Dialektes in Heinrichs Werk vermutet man, dass er aus dem Alpenraum stammt, möglicherweise aus St. Veit an der Glan. Heinrich, der ein hochgebildeter Mann war - so beherrschte er Latein und Französisch und wohl auch Provenzalisch - lehnt sich an keine direkte Vorlage an, sondern komponierte die 30038 Verse des Werkes aus vielen Versatz- stücken der verschiedenen arthurischen Erzählungen seiner Zeit. Sowohl die deutschsprachigen als auch die französischen Werke waren ihm geläufig, so dass er aus einem reichen Fundus an Motiven auswählen konnte, die er zu zeitweise surreal anmutenden Szenerien aneinanderreihte.
Inhaltlich handelt es sich bei der Krone um einen Gaweinroman, welcher die Geschichte des Musterritters Artus erzählt, der darin eine Reihe von wunderlich anmutenden Aventüren zu bestehen hat. So besucht er das Reich der Frau Sælde und erlöst die Untoten der Gralsburg. Vielfach wird in dem Werk Bezug auf den Parzival Wolframs genommen, so dass man in der Krone einen Gegenentwurf zu letzterem zu erkennen meint ...
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