Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Erecs 'Verliegen'

Eheliche Verpflichtungen - aber, bloß nicht übertreiben ..., Abbildung aus dem Régime du Corps des Aldobrandino von Siena, um 1285

Endlich! Ein trotz blühender Jugend bereits allseits geachteter und ob seiner Kampfeskünste berühmter Artuskämpe zu sein, König im eigenen Land, mit der eben erst errungenen wunderschönen Frau an der Seite und treu ergebenen Gefährten im Gefolge - muss dies nicht die Erfüllung aller ritterlichen Träume bedeuten? Am Gipfel angekommen - was sollte das herrliche Glück des jungen Paares jetzt noch trüben können? Zuviel Liebe, die Verletzung der ausgewogenen und standesgerechten Lebensart wie Hartmann von Aue dem Protagonisten seines höfischen Romans Erec und Enide in schmerzhafter Form lehrt ....

Zurück zur Übersicht Mittelhochdeutsch, zum Anschlagbrett, oder zur Hauptseite

Kleiner Zwischenraum

... bis er sich so sehr verlegen hatte ...
(2994ff)

...
Erec war rechtschaffen und gut,
sein Denken war ritterlich
ehe er eine Frau genommen hatte
und heimgekehrt war.
Nachdem er nun zu Hause war,
wendete sich all sein Denken
einzig auf die Liebe Frau Enitens.
Seine Sinne richteten sich nur darauf
wie er alles
bequem einrichten könne.
Er begann seine Gewohnheiten zu ändern.
Als wäre er nicht zum Mann geworden,
so vertrieb er sich den Tag.
Am Morgen lag er,
um seine Frau zu lieben,
bis man zur Messe läutete.
Da standen sie beide
eilig auf.
Sie fassten sich an den Händen
und gingen zur Kapelle;
dort blieben sie gerade so lange
wie man die Messe sang.
Das war seine größte Mühe;
danach war schon das Essen bereitet.
Sobald man die Tische aufgehoben hatte,
floh er mit seiner Frau
zu Bette vor den Leuten.
Dort begann das Lieben von Neuem.
Von dort entkam er nicht
ehe es zum Abendessen ging.
Als sich Erec, Sohn des Königs Lac,
so vom ritterlichen Leben abkehrte,
verlor er doch nicht alle gute Gesinnung,
so fuhr er fort,
obwohl er selbst kein Turnier mehr besuchte,
dass er doch
alle seine Gesellen so ausstattete,
dass sie wohl versorgt
sich auf Turnierfahrt begeben konnten.
Er befahl, sie so gut auszustatten,
als ob er selbst mit ihnen ritte.
Dieses Verhalten lobe ich an ihm.
Erec gewöhnte sich
um seiner Frau wegen große Bequemlichkeit an.
So sehr liebte er sie,
dass ihm um ihretwillen alles Ansehen
gleichgültig wurde
bis er sich so verlegen hatte,
dass niemand mehr
Achtung vor ihm empfand.
Das begann zu Recht
die Ritter und Knappen
am Hofe zu verdrießen.
Die vordem froh gewesen waren,
die verdross es nun dort
und sie verließen ihn.
Denn weder Frau noch Mann
zweifelten daran,
dass er verdorben sein müsste;
diesen Ruf hatte er bekommen.
Eine Wandlung vollzog sich an ihm.
Früherer Ruhm
verkehrte sich in Schande
bei denen, die ihn kannten.
Alle Welt tadelte ihn.
Sein Hof war bar aller Freuden
und schändlich.
Es brauchte ihn aus fremden Landen
niemand aufzusuchen um Vergnügen zu finden.
...

... unz daz er sich sô gar verlac ...
(2994ff)

...
Êrec was biderbe unde guot
ritterlîche stuont sîn muot
ê er wîp genæme
und hin heim kæme:
nû sô er heim komen ist,
dô kêrte er allen sînen list
an vrouwen Ênîten minne.
sich vlizzen sîne sinne
wie er alle sîne sache
wante zuo gemache.
sîn site er wandeln began.
als er nie würde der man,
alsô vertreip er den tac.
des morgens er nider lac,
daz er sîn wîp trûte
unz daz man messe lûte.
sô stuonden si ûf gelîche
vil unmüezeclîche.
ze handen si sich viengen,
ze kappeln si giengen:
dâ was ir tweln alsô lanc
unz daz man messe gesanc.
diz was sîn meistiu arbeit:
sô was der imbîz bereit.
swie schiere man die tische ûf zôch,
mit sînem wîbe er dô vlôch
ze bette von den liuten.
dâ huop sich aber triuten.
von danne enkam er aber nie
unz er ze naht ze tische gie.
dô Êrec fil de roi Lac
ritterschefte sich bewac,
der tugende er dannoch wielt,
dâ er sich schône an behielt,
swie er deheinen turnei suochte,
daz er doch beruochte
sîne gesellen alle gelîche
daz si vil volleclîche
von in selben mohten varn.
er hiez si alsô wol bewarn
als er selbe mit in rite.
ich lobe an im den selben site.
Êrec wente sînen lîp
grôzes gemaches durch sîn wîp.
die minnete er sô sêre
daz er aller êre
durch si einen verphlac,
unz daz er sich sô gar verlac
daz niemen dehein ahte
ûf in gehaben mahte.
des begunde mit rehte
ritter unde knehte
dâ ze hove betrâgen.
die vor der vreude phlâgen,
die verdrôz vil sêre dâ
unde rûmten imz sâ:
wan ez enhâte wîp noch man
deheinen zwîvel dar an,
er enmüeste sîn verdorben:
den lop hete er erworben.
ein wandelunge an im geschach:
daz man im ê sô wol sprach,
daz verkêrte sich ze schanden
wider die die in erkanden:
in schalt diu werlt gar.
sîn hof wart aller vreuden bar
unde stuont nâch schanden:
in endorfte ûz vremden landen
durch vreude niemen suochen.
...

Kleiner Zwischenraum

Anmerkungen:

Hartes Brot, dass Hartmann im zitierten Textabschnitt seinem Helden Erec verabreicht. Da ist er endlich am Ziel seiner Wünsche, beschäftigt sich äußerst liebevoll mit seiner Frau, für die er in rittelichem Kampfe wohl nicht von ungefähr die Anerkennung als Schönste der Schönen erstritten hat. Und dann? Dann hagelt es nur noch Schelte und Verachtung von allen Seiten. Und darum - auch auf die Gefahr hin, einige unserer weiblichen Leserinnen damit vor den Kopf zu stoßen - sei ein Aufruf getan an alle Frauen: Lasst, ihr Guten und Schönen, euren Männern doch ihre Hobbies und kleinen Beschäftigungen. Denn selten gebiert eine vollstän- dige Umkrempelung des Geliebten nachträglich dauerhaft Gutes ...

Was aber ist es, was Hartmann dem jungen König vorwirft? Zuviel Liebe ist's, den ganzen langen Tag hindurch - und von den Nächten wollen wir lieber gar nicht erst sprechen-, unterbrochen nur von den allernotwendigsten Pausen, wenn es denn gilt rasch zur Kapelle zu eilen, natürlich Hand in Hand, einige fromme Gesänge zu tun, und danach zu Tische, um verlorene Kalorien und Kräfte wieder auf Vordermann zu bringen. Denn, so müssen wir ehrlich gestehen, es ist wahrlich nicht wenig an Leistung, die Erec in jenen Tagen erbringen muss.

Aber wird ihm dies angerechnet von den Gefährten? Vom Autor? Mitnichten! Denn Erec benimmt sich nicht wie ein richtiger Mann, ein guter König es zu tun hat. Vielmehr wie ein unreifer Jüngling, der ohne Verantwortung trunken genießt. Blind vor Liebe hat er das rechte Maß aus dem Auge verloren, die Ausgewogenheit in seinem Tun. Da ist keine Zeit mehr für die Gefährten, nicht für Gäste, selbst nicht bei Tisch, denn kaum hat das verliebte Paar die Speisen hinuntergeschlungen, geht es heißhungrig zurück in die Kemenate. Sie verliegen sich, wie es Hartmann so schön formuliert hat.

Wie kann ihn eine Gesellschaft noch achten, die nach Repräsentation verlangt, nach der Schaustellung ritterlicher Lebensart? Die verlangt, dass der junge König an der Seite seiner Getreuen auf Turnierfahrt geht, auf Aventiuren. Dass er den Pflichten eines Königs nachkommt, Recht spricht, Feste ausrichtet, der Mittelpunkte eines verschwenderisch-aufwendigen Hoflebens ist. All dies vernachlässigt Erec, und da hilft es auch nichts, dass er dabei seine Freigebigkeit bewahrt, um wenigstens den Gefährten zu erlauben, den ritterlichen Lebensstil standesgemäß zu pflegen.

Es wir getuschelt, natürlich hinter dem Rücken des Paares, oder auch unverhohlen, denn Erec und Enide haben sowieso nur Ohren füreinander. Missmut macht sich breit, denn man will auf den eigenen Herrn stolz sein können. Nur dann ist man bereit ihm zu folgen, wenn er ein Vorbild ist. Ein guter Herr, ein guter König zu sein, bedeutet eben mehr. Getreue verlassen ihn, Gäste bleiben aus. Schändlicher Makel haftet am Hof. Endlich, Erec ist erschöpft in den Schlaf gefallen - verständlich -, wird Enide den Tratsch erlauschen. Und dann, oh welch ungerechte Welt, wird sie Erec ebenfalls Vorhaltungen machen. Undank, dein Name ist Frau, möchte man da fast sagen, und so wird Erec mit seiner Enide noch einmal auf Aventurienfahrt gehen müssen, um seine befleckte Ehre wiederherzustellen, um das verlorene Ansehen wiederzugewinnen.

Zurück zur Übersicht Mittelhochdeutsch, zum Anschlagbrett, oder zur Hauptseite

© 2010, Gestaltung und Inhalt: H. Swaton - alle Rechte vorbehalten