Saelde und Ere - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Slâfest du, friedel ziere?

Höfisches Liebespaar: Herr Hug von Werbenwag mit seiner Dame, Abbildung aus dem Codex Manesse

Dieser sehr bekannte mittelalterliche Text, bei dem es sich um das älteste uns bekannte Taglied aus dem deutschsprachigen Raum handelt, wird gemeinhin dem Dichter Dietmar von der Aist zugeschrieben. Wie dies bei so vielen mittelalterlichen Werken der Fall ist, gibt es allerdings auch hier gewisse Zweifel an der Autorenschaft des Liedes. Die Frage ist, ob uns denn durch eine unsichere Autorenschaft mehr verlorengeht als die Gewissheit über einen Namen. Schließlich besitzen wir über kaum einen mittelalterlichen Autor gesicherte Daten und Fakten ...

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Kleiner Zwischenraum

Schläfst du noch, schöner Geliebter?

'Schläfst du noch, schöner Geliebter?
Bald wird man uns leider wecken.
Ein schönes Vögelchen
hat sich auf dem Zweig der Linde niedergelassen.'

'Ich war sanft eingeschlafen:
nun rufst du mich auf, Kind.
Liebe ohne Leid kann nicht sein.
Was immer du mir gebietest,das leiste ich,
meine Freundin.'

Die Frau begann zu weinen.
'Du reitest fort und lässt mich alleine.
Wann willst du wieder zu mir kommen?
O weh, mit dir führst du auch mein Glück hinfort!'

Slâfest du, friedel ziere?

'Slâfest du, friedel ziere?
man weckt uns leider schiere:
ein vogellîn sô wol getân
daz ist der linden an daz zwî gegân.'

'Ich was vil sanfte entslâfen:
nu rüefestu kint wâfen.
liep âne leit mac niht gesîn.
swaz du gebiutst, daz leiste ich,
friundîn mîn.'

Diu frouwe begunde weinen.
'du rîtst und lâst mich eine.
wenne wilt du wider her zuo mir?
owê, du füerst mîn fröide sament dir!'

Kleiner Zwischenraum

Anmerkungen:

Im obigen Text klagt eine Frau darüber, dass der nahende Morgen sie vom Geliebten trennen wird. Diese Gattung, welche den Ab- schied der Liebenden in der Morgendämmerung zum Inhalt hat, wird im deutschen Sprachraum als Taglied bezeichnet, der proven- calischen 'Alba' (d.i. der Morgen) entsprechend, von woher diese Form stammen soll. Taglied deshalb, weil das Anbrechen des Ta- ges, der Einbruch der Helligkeit eine schmerzhafte Trennung im Gefolge hat. Haben muss, weil sich nämlich die Liebenden heimlich getroffen haben und ihre Beziehung geheim bleiben muss, soll sie nicht Gefahr und Leid bewirken.

Doch halt! Kennen wir nicht alle eine ähnliche, sehr bekannte Geschichte. 'Es war die Nachtigall und nicht die Lerche ...', lässt der gute Will Shakespeare sein berühmtes Paar hoffen. Doch vergebens - wie schon in unserem Minne- und Taglied kündigt auch in dieser Geschichte ein Vogel vom Einbruch des unbarmherzigen Morgens. Es wird ein Abschied für immer werden zwischen Romeo und Julia. Und so wie dies auch in unserem Taglied der Fall ist, haben sich die traditionellen Rollen von Tag und Nacht vertauscht. Die Nacht, üblicherweise jener Zeitraum, währenddessen dunkle Kreaturen und unbekannte Gefahren am bedrohlichsten sind und den es gilt unbeschadet zu überstehen, ist für die Liebenden jener Tagesabschnitt, in dem sie vor Gefahren sicher sind und sie sich ihrer Leidenschaft ungestört widmen können. Erst das Aufdämmern des ersten Morgengrauen, das Heraufziehen des Tages- lichtes, von den meisten Menschen ersehnt, lässt die Gefahr der Entdeckung ins Vielfache steigen ...

Hier zeigt sich unser Taglied als früher Vertreter seines (mittelalterlichen) Genres: Zwar leiden die Liebenden unter der bevorste- henden Trennung, welche durch den Vogel, den Boten des nahenden Tages, angekündigt wird. Doch im Gegensatz zu den klas- sischen Tagleidern, etwa eines Wolfram von Eschenbacht, fehlt hier noch die Figur des Wächters, der in das verbotenen Liebes- verhältnis eingeweiht ist und der vor der drohenden Entdeckung warnt, der zum raschen Aufbruch drängt.

Charakteristischerweise finden sich Vorläufer dieser Gattung in den Literaturen vieler Völker und aller Zeiten - offensichtlich stellt die heimliche Liebesnacht ein allgemein übliches Bedürfnis in vielen Kulturen dar. Immerhin findet sich schon im biblischen Hohelied Salomons folgender Text:

Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Ich will aufstehen und die Stadt durch- streifen, die Strassen und Plätze, will suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Mich fanden die Wächter, die die Stadt durchstreifen. Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt? Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich ihn, den meine Seele liebt. Ich fasste ihn und ließ ihn nicht, bis ich ihn führte ins Haus meiner Mutter und ins Gemach jener, die mich gebar. Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hinden des Feldes: Weckt nicht, stört nicht die Liebe, solange die Lust währt.

Ob und inwieweit diese Bibelstellen auf sumerische bzw. altägyptische Vorbilder zurückgehen, lässt sich nicht mit Sicherheit beant- worten. Jedoch gibt es einige Parallelen, die zumindest eine gewisse Verwandtschaft nahelegen. Nebenbei gesagt stellte das Ho- helied einen immens einflussreichen Text für für die christliche Mystik des Mittelalters dar, wurde doch die erotische Beziehung, von der die Rede ist als Beziehung Christus und der Kirche als Braut Christi aufgefasst. In der allegorischen Denkweise wird aus der liebenden Frau die anima religiosa und aus dem geliebten Mann der Christus exaltatus. Die fromme Seele liebt den erhöhten Chris- tus. Ihre Kammer ist das Kloster, ihre Wächter sind die christlichen Regeln. Die Übernahme mancher Begriffe dieser als religiös auf- gefassten Minnebeziehung in die weltliche Minnethematik war dann wohl nur noch ein kleiner Schritt ...

Zum Autor:

Das angeführte Lied wird in der Manesseschen Handschrift unter dem Namen des Dietmar von Aist überliefert, eines vermutlich aus oberösterreichischem Geschlecht stammenden Minnesängers, dessen Heimat und Sitz an der Aist gelegen haben dürfte. Dies scheint auch durch namentliche Erwähnungen auf Salzburger, Regensburger und Wiener Urkunden plausibel. Das Wirken dieses Sängers darf man ungefähr in den Zeitraum zwischen 1140 und 1170 datieren. Von den Liedern, die ihm zugeschrieben werden, stammen einige mit Sicherheit nicht von ihm. An seiner Urheberschaft des Friedelliedes wurden ebenfalls Zweifel angemeldet, aus- schließen lässt sie sich jedoch ebensowenig mit Sicherheit wie positiv beantworten.

Man darf in Dietmar einen Minnesänger, der am Übergang vom vorhöfischen zum höfischen Minnesang stand, sehen. So war er einer der ersten Sänger, der in seinen Liedern die Wechselrede und den Refrain einsetzt. Stets haben seine Texte dabei das Ver- hältnis von Mann und Frau, die Liebe und die Trennung zum Inhalt. Wovon sonst sollte ein gestandener Minnesänger denn auch singen ...

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