Gelückes rat ist sinewel
Reinmar von Zweters Spruch Gelückes rat verwendet das Bild der rota Fortunae, also das Bildnis vom Glücksrad der Fortuna beziehungs- weise der Frau Saelde, wie sie in den mittelhochdeutschen Texten genannt wird. Darin spiegeln sich im mittelalterlichen Denken die Unwägbarkeiten der Schicksalsmächte wider, die ungerührt ob aller menschlichen Absichten walten und auch manch Großen in den Abgrund reißen können (Weitere Anmerkungen zur Interpretation siehe auch hier).
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Des Glückes Rad ist rund ...
Des Glückes Rad ist rund,
manch einer läuft ihm nach,
doch ist es diesem viel zu schnell,
obwohl es sich freiwillig erlaufen lässt,
von jenem, den es betrügen will.
Wer auf dem Glücksrad nach oben steigt,
benötigt all seine Sinne,
damit er den Stand auf dem Glück behalte,
so dass es unter ihm nicht schwanke:
denn das Rad hat schon viele mit sich hinuntergezogen.
die müssen dann in übler Weise dahinsinken,
denn sie liegen in Schanden auf der Erde:
Das Glück schwankt unberechenbar,
viele beschenkt es vor der Zeit,
und nimmt wieder weg, was es gegeben hat:
Es macht denjenigen zum Narren, dem es zu viel geborgt.
Gelückes rat ist sinewel ...
Gelückes rat ist sinewel,
im loufet maneger nach,
doch ist ez vor im gar ze snel
und lat sich doch erloufen williclich,
den ez beswichen wil.
Swer stiget uf Gelückes rat,
der darf wol guoter sinne,
wie er behalte Gelückes stat,
deiz unter im iht wenke:
wand ir daz rat hin ab im zucket vil.
Die müezen danne sigen mit unwerde,
wan sie mit schanden ligen uf der erde:
Gelücke wenket unbesorget,
ez git vil manegem e der zit
unt nimt hin wider swaz ez git:
ez toeret den, swem ez ze vil geborget.
Autor und Interpretation:
Reinmar von Zweter, wurde um 1200 am Rhein geboren und war vermutlich von ritterlicher Abstammung. Aufgewachsen ist er nach eigenen Angaben in Österreich, wo auch seine dichterische Laufbahn am Hofe der Babenbergerherzöge Leopold VI. und Friedrich II. begann. Er gilt als bedeutender deutscher Sangspruchdichter in der Nachfolge von Walther von der Vogelweide und wurde auf Grund seiner Kunstfertigkeit später von den Meistersingern zu den zwölf Begründern ihrer Kunst gerechnet. In der zweiten Lebenshälfte führte er vermutlich ein Leben auf Wanderschaft.
Von Reinmar sind etwa 250 Sangspruchstrophen überliefert, in denen er für verschiedenen Parteien Stellung ergreift; dies hat vermutlich den Grund, dass er für unterschiedliche Gönner dichtet. So ergreift er Stellung gegen den Kaiser, für und gegen den Staufer Friedrich II. und kritisiert den Dogen von Venedig, einen 'Kürschner' - also Handelsmann, der sich in die Belange des Reiches einmengen will. Nach 1248 sind von ihm keine schriftlichen Aufzeichnungen mehr bekannt.
Interessant ist, dass Reinmar in der großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) mit geschlossenen Augen dargestellt ist, was vereinzelt zu der Spekulation Anlass gab, er wäre blind gewesen.
Die personifizierte Darstellung des unabwägbaren Waltens der Schicksalsmächte in der Figur der Frau Saelde, der Fortuna in lateinisachen Texten wie etwa der Carmina Burana, geht auf die gleichnamige antike Glücksgöttin zurück. Besonders geläufig ist den Menschen des Mittelalters die Darstellung der Saelde, wie sie entweder im Zentrum eines Rades sitzend oder an diesem Rade drehend über das Schicksal von Königen und Fürsten, aber auch von Bettlern entscheidet.
Während ihr Walten häufig als unpersönlich empfunden wird, sodass Fortuna/Saelde in manchen Abbildungen mit verbundenen Augen dargestellt wird, fallen im vorliegenden Spruch Reinmars die Motive des davonlaufenden Rades beziehungsweise der betrügerischen Absicht ins Auge, mit welcher das Schicksal den Unvorsichtigen lockt. Die Gaben der Frau Saelde sind unberechenbar - was sie unverhofft gibt, kann sie jederzeit wieder zurückfordern.
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