Ich wæne, mir liebe geschehen wil
Acht Jahrhunderte sind vergangen seit Reinmar erwartungsvoll um die Liebe wähnte - und doch sind die Hoffnungen, die Freuden und die Sorgen von damals und von heute ganz ähnliche geblieben. So zumindest mag es uns scheinen, wenn wir seinen Text lesen. Und ganz ehrlich: Wer träumt nicht davon - nach einem langen Tag im Büro, einer langen Woche auf Montage oder gar einem mehrmonatigen Aufenthalt im fernen Mohrenlande - zurückzukehren in den Kreis seiner Freunde . Zwar gehen heute Nachrichten rascher um den Erdball als dazumalen die Taube vom Nordturm zum Südturm zu flattern vermochte, aber dennoch vermögen Skype und Konsorten die Arme der Liebsten nicht gleichwertig ersetzen. Also träumen wir immer noch von langen Nächetn wie schon dazumal ...
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Ich wähne, dass mich Liebe erwartet
Ich wähne, dass mich Liebe erwartet.
Mein Herz hebt an zum Spiel,
mein Gemüt schwingt sich freudig empor,
wie es der Falke im Fluge tut
und der Adler im Schweben.
Ließ ich doch Freunde daheim.
Wohl mir, finde ich sie
wohlbehalten, wie ich sie verließ!
So schön ist es, bei ihr zu sein.
Herr Gott, gestatte mir,
dass ich sie sehen darf
und alle ihre Sorgen wiedergutmache,
wenn sie in irgendwelchen Sorgen ist,
dass ich ihr die erleichtere
und sie die meinen auch.
So können wir Freude genießen.
Oh wohl mir dann der langen Nacht.
Wie könnte sie mich verdrießen?
Ich wæne, mir liebe geschehen wil
Ich wæne, mir liebe geschehen wil.
Mîn herze hebet sich ze spil,
ze fröiden swinget sich mîn muot,
alse der valke in fluge tuot
und der are in sweime.
jô liez ich friunde dâ heime.
wol mich, vinde ich die
wol gesunt, als ich si lie!
vil guot ist daz wesen bî ir.
herre got, gestate mir,
daz ich si sehen müeze
und alle ir sorgen büeze,
ob si in deheinen sorgen sî,
daz ich ir die ringe
und si mir die mîne dâ bî.
sô mugen wir fröide niezen.
ô wol mich danne langer naht!
wie kund mich der verdriezen?
Anmerkungen:
Welch ein Gegensatz zur Klage, wie sie im Hohen Minnesang - etwa eines Heinrich von Morungen - üblich ist! Leidet dort der Dichter und Sänger alle Qualen der Entbehrung im Dienste seiner unantastbaren Dame, so stellt dem Reinmar, genannt der Ältere, in seinem Lied einen selbstbewussten Herrn gegenüber, der nach einer offensichtlich längeren Zeit der Abwesenheit keinen Zweifel daran hegt, von seiner Geliebten freudig und mit offenen Armen empfangen zu werden.
Natürlich macht er sich Sorgen, ob er sie denn wohl wiederfinden werde, so wie sie sich auch um ihn gesorgt haben muss. Aber, so seine Gewissheit, mit seiner Wiederkehr wird der Genuss, den sie sich gegenseitig schenken werden, diese Sorgen und das Leid um die lange Abwesenheit vergessen lassen. Keine Zweifel um ihre Liebe, keine Zweifel um ihre Treue - allenfalls Bedenken, die erste Nacht des Wiedersehens könnte zu kurz geraten ...
Von seiner Form her und von seinem Inhalt schließt das Lied an die Tradition des frühen Minnesanges an; man ist daher geneigt, seine Entstehung in eine frühe Schaffensphase Reinmars zu datieren. Auffällig ist jedenfalls seine Gestaltung als Einzelstrophe, die im klassischen Minnesang sehr selten verwendet wird. Ebenso wie die Form in zwölf paarreimenden Versen und zwei abschließenden Dreizeiler, die als Terzinen gestaltet sind, deren Außenverse sich also reimen.
Reinmar selbst, von Gottfried von Strassburg höchstwahrscheinlich als die Nachtigal von Hagenau erwähnt und somit als größter Dichter deutscher Sprache bezeichnet, gehört in die zweite Hälfte des 12 Jahrhunderts und zählt zu den Vertretern der klassischen Phase des hohen Minnesangs. Eindeutig lässt sich seine Herkunft nicht belegen, doch sprechen gewisse Indizien dafür, dass er aus einem elsässischen Geschlecht von Hagenau entstammen könnte. Auch ein Aufenthalt am Hofe des Babenbergers Leopold V. ist wahrscheinlich - möglicherweise sogar als Hofdichter, in welcher Eigenschaft er in einer gewissen Konkurrenz zu Walther gestanden haben könnte.
Sind viele seiner Lieder klassische Lieder der Hohen Minne - angemerkt sei hier, dass man sich in der Forschung nicht ganz einig ist, welche unter seinem Namen überlieferten Lieder nun tatsächlich originär von ihm stammen -, in denen der Mann die Reinheit der Angebeteten liebt und in der das Leiden ob des unerfüllten Verlangens nach ihr zur Tugend erkoren wird, sehen wir im vorgestellten Text eine ganz andere, weitaus optimistischere Haltung; sind wir froh darum, denn immer nur Klagen lässt auf die Dauer auch den Standhaftesten mürbe werden. Darum wünschen wir dem Herrn im Lied, dass er alles so wiederfinden möge, wie er es verlassen hat und die Nacht, die Nacht soll ihm und ihr tatsächlich eine lange werden ...
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