Saelde und Ere - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Ave, vil liehtû maris stella ... Teil1

Der Erzengel Gabriel verkündet Maria die Geburt Christi - Siena, um 1330 von Simone Martini

Die hier angeführte Mariensequenz stammt aus dem Kloster Muri im Aargau (Schweiz); das Entstehungsdatum dürfte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts liegen. Es handelt sich hierbei um die älteste bekannte klare Nachbildung der lateinischen Sequenzform in deutscher Sprache, wofür die berühmte Sequenz Ave praeclara maris stella das Vorbild abgab. In der Sequenz zeigt sich bereits der Wandel der Marienverehrung von einer dogmatisch-sakralen zu einer persönlich-andächtigen Haltung.

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Mariensequenz, Teil1

Sie gegrüßt, leuchtende Maris Stella,
du Licht der Christenheit, Maria,
aller Jungfrauen Leuchte.

Freue dich, Gottes Gefäß,
verschlossene Pforte,
da du den gebarst,
der dich und die ganze Welt erschuf,
nun sieh, welch reines Gefäß du Jungfrau
da warst.

Sende in meine Sinne,
du Königin des Himmels,
wahre Rede, süß,
damit ich den Vater und den Sohn
und den hochheiligen Geist preisen möge.

Für immer Jungfrau,,
Mutter ohne Makel,
Herrin, du hast gesühnt, was Eva
zerstörte,
die auf Gott nicht hörte.

Hilf mir, edle Herrin,
tröste uns Arme durch die Ehre,
dass Gott dich vor allen Frauen
zur Mutter erwählte,
wie es dir Gabriel verkündete.

Da du ihn vernahmst,
wie du zuerst dich entsetztest!
Deine reine Schamhaftigkeit
erschrak vor der Kunde,
wie Jungfrau ohne Mann
je ein Kind gebären könnte.

Herrin, an dir ist Wunder,
Mutter und Jungfrau zugleich:
jener, der die Hölle erbrach,
der lag in deinem Leib,
und dennoch wurdest
du dadurch nicht zum Weibe.

Mariensequenz, Teil1

Ave, vil liehtû maris stella,
ein lieht der cristinheit,Maria,
alri magede lucerna.

Frouwe dich, gotes cella,
bislozzinû porta,
dô dû den gibære,
der dich und al die welt giscuof,
nû sich, wie reine ein vaz dû magit
do wære.

Sende in mîne sinne,
des himilis chuniginne,
wâre rede suoze,
daz ich den vatir und den sun
und den vil hêrin geist lobin muoze.

Iemir magit ân ende,
moutir âne missewende,
frouwe, du hast virsuonit daz Eva
zirstôrte,
diu got ubirhôrte.

Hilf mir, frouwe hêre,
trôst uns armin dur die êre,
daz dîn got vor allen wîbin
zi muotir gidâhte,
als dir Gabriel brâhte.

Dô dû in virnæme,
wie dû von êrste irchæme!
dîn vil reinû scam
irscrach von deme mære,
wie magit âne man
iemir chint gebære.

Frouwe, an dir ist wundir,
muotir und magit dar undir:
der die helle brach,
der lac in dîme lîbe,
und wurde iedoch
dar undir niet zi wîbe.

Zum zweiten Teil der Mariensequenz ...

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Bemerkungen:

Das christliche Religion spielte im Leben des mittelalterlich-europäischen Menschen eine derartig beherrschende Rolle, dass die gesamte Kulturraum Europa während dieser Epoche davon geprägt wurde. Gott war der Mittelpunkt allen Denkens, alle Wissenschaft der Theologie untergeordent ('Die Philosophie ist die Magd der Theologie').

Auch der Blick auf die älteste deutschsprachige Literatur lässt keinen Zweifel an der herausragenden Rolle des Religiösen in der damaligen Zeit. Von dem Zeitpunkt ihres Auftretens an, trugen die Schrifterzeugnisse vornehmlich religiösen Charakter. Althochdeutsche Schriftzeugnisse sind religiöse Schriften: Übersetzungen zu kirchlichen Texten, Bibel- und Heilsdichtungen (etwa Otfrieds 'Evangelienbuch), Glossen, das christliche Heldenlied, Mariendichtung, Weltgeschichte als Heilsgeschichte, ... Da stellt es schon eine mittlere Sensation dar, wenn sich unter den erhaltenen Schriftzeugnissen eines findet, das heidnischen Inhalts ist, wie die berühmten Merseburger Zaubersprüche.

Erst im Hochmittelalter tritt neben die geistliche auch eine bedeutende weltliche Dichtung. Mit Liebesroman, dem Themenkreis um König Artus, dem historischen Roman (etwa dem Themenkreis um Karl den Großen), dem Minnelied und dem Heldenepos entstehen neue Gattungen. Dennoch bleiben viele der Dichter weiterhin auch religiöser Thematik verbunden (Wolfram, Walther, Hartmann von Aue, ...). Und selbstverständlich reißt auch der Strom geistlicher Literaturerzeugnisse aus den Reihen von Klerus und Klöstern nicht ab.

Die angeführte Sequenz ist ein Beispiel für ein derartiges geistliches hochmittelalterliches Literaturzeignis aus dem deutsch- sprachigen Raum. Darin bedeutet Maris stella 'Meerstern'. Der Begriff ist eine preisende Umschreibung für Maria, die in einem kirchlichen Hymnus des 9. Jahrhunderts erstmalig auftritt.

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