Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Schlüsselbegriffe

Hier mögt ihr nun einiges über Begriffe erfahren, deren Verständnis für die Interpretation mittelhochdeutscher Texte bedeutsam ist ...

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'Mit sælden müeze ich hiute ûf stên' - Die sælde , das glückliche Schicksal

Die Erlangung von sælde ist den Protagonisten von mittelalterlichem Epos und Roman äußerst wünschens- wert. Verständlich, schließlich haben auch wir das Glück liebend gerne auf unserer Seite. Jedoch ist der Be- griff, wie er in der mittelalterlichen Literatur verwendet wird, nicht gleichbedeutend mit unserem modernen Glücksbegriff. 'Glück, Heil, Segen' und im religiösen Sinn auch 'Seligkeit' - all dies steckt in den mittelhoch- deutschen Begriffen sælde oder sælecheit , die sich beide vom althochdeutschen salida ableiten.

Die sælde beinhaltet somit einerseits das lateinische fortuna (Glück), andererseits beatitudo, felicitas (Glück- seligkeit, Heil), aber auch das, was wir als günstiges Schicksal bezeichnen würden:

Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint ...

('Tristan', Vers 498)

Charakteristisch für die mittelalterliche Denkweise, in der äußere und innere Eigenschaften stets in Über- einstimmung stehen, ist einmal mehr der Gedanke, dass die sælde dem Würdigen, demjenigen, der durch die rechten Handlungen und stete Bemühungen sich dies auch verdient, zufällt:

'Swer an rhte güete wendet sîn gemüete, dem volget sælde und êre.'
(Aus dem Prolog des 'Iwein')

Wer also sein ganzes Trachten darauf richtet, stets richtig zu handeln, dem werden zwangsläufig Ehre, Glück und Seligkeit zufallen. Wobei in dieser Denkweise stets das eine auch das andere bedingt: Nur wem die Sælde hold ist, der kann êre erlangen; andererseits wird der, der immerzu nach dem Richtigen trachtet, zwangsläufig auch Glück erfahren.

Nun empfangt im Namen eurer Ehre
meine Bitte gnädig,
damit Frau Sælde euch belohne.

('Wigalois', Vers 275-278)

Das Mittelalter liebte die Allegorie und lässt etwa den Tannhäuser im Minneberg der vrou Minne , der Perso- nifikation der weltlichen Liebe, höchst erdennahe Freuden erleben. So darf es nicht überraschen, dass in der hofischen Dichtung auch vrou Sælde entgegentritt, wie im obigen Textausschnitt. Sie entspricht der römischen Fortuna und hat ihre Auftritte unter anderem in der Carmina Burana, bei Hartmann, Walther oder im Monumentalwerk Heinrich von dem Türlin, Diu Crône , in dem der Arthusritter Gawein sogar den Palast der Sælde betritt und dort deren Glücksrad zu Gesicht bekommt.

Ein Abbild des Rades findet sich übrigens auch in Wirnt von Grafenbergs Roman Wigalois , als nämlich Gawein auf König Jorams Burg weilt:

Auf der Burg des Königs
befand sich das allerbeste
Kustwerk aus rotem Golde
nach seinem Wunsch gegossen:
ein Rad, mitten im Saal;
das drehte sich auf und ab;
daran waren Figuren gegossen,
jede wie ein Mensch geformt.
Hier sanken diese mit dem Rad nieder,
dort stiegen die anderen wieder hoch;
so drehte es sich an dem Ort;
das war das Rad des Glücks.

(Wigalois, Vers 1036, ff)

Zu guter Letzt meint sælde in der höfischen Dichtung aber auch die guten Eigenschaften von Männern und Frauen, die vom Schicksal, Glück oder durch Gottes Segen mit allen Tugenden bedacht sind ... Im Spätmit- telalter wurde der Begriff schließlich durch das Glück ( gelücke ) verdrängt, nur in der Seligkeit hat er sich erhalten. Und manchenorts wird auch darüber spekuliert, ob nicht etwa in den 'saligen Frauen' Tirols noch etwas von der Gestalt der launenhaften, Glück und Unglück verteilenden vrou Sælde durchschimmert ...

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