Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Ein gar wundersamer Stein - Der Gral in Wolframs Parzival, Teil 1

Einige Ritter der Tafelrunde werden vom Gral gespeist, Fresko aus dem späten 13. Jhdt.

Liest man den mittelalterlichen arthurischen Roman, so sieht man die Helden und Protagonisten zahllosen Abenteuern ausgesetzt, Aventiuren, die in fremde, phantastische Länder führen, durch zauberhafte Wälder, ja sogar in die jenseitige Welt. Manchesmal hat ein unerfahrener Ritter eine Entwicklung zu durchlaufen, Erfahrungen zu sammeln und sich seine gesellschaftlichen Rolle zu erkäm- pfen und zu bestätigen. Andere wiederum, wie der beste der Ritter der Tafelrunde, Gawain (ja, erst in den späteren Erzählungen hat ihm der vom See diesen Rang abgelaufen), befinden sich stets auf dem Gipfel des Ruhms und erretten das eine um das andere Mal Schutzbedürftige aus den Fängen von Unholden und geheimnisvollen Zauberern.

Doch das Reich des besten aller Könige ist eines Tages befriedet und so bedürfen manche dieser Helden einer weiteren Aufgaben- stellung, einer bedeutungsvolleren als alle bisherigen, die sie bislang zu bewältigen hatten, der größten überhaupt! Die Suche nach dem Gral ist es, die als Forderung so unvermittelt in die Welt der strahlenden Ritter hereinbricht und sie fort vom Hofe treibt.

Die meisten von ihnen brechen auf, lassen den königlichen Court verwaist und vereinsamt zurück, viele suchen lange Jahre und finden nicht, wonach sie gesucht haben. Verhärmt und enttäuscht kehren sie zurück, gescheitert - jene, die wenigstens soviel Glück haben. Denn nicht wenige finden in den unwirtlichen Weiten, in den eisigen Wintertagen oder unter brennender Sonne den Tod, fallen den Waffen grausamer Gegner zum Opfer.

Andere wiederum suchen nicht und finden dennoch, zufällig, das, wonach alle sich sehnen - die Schau des Grales. Doch nicht im- mer sind sie schon bereit, die Aufgabe zu Ende zu bringen, die rechte Frage zu stellen. Doch egal, ob nun erfolgreich oder nicht, uns als Leser hat die Kraft des Mythos längst schon gepackt. Wir wollen wissen, was es mit diesem ... mit diesem .. ja, worum handelt es sich bei diesem geheimnisvollen Gral denn überhaupt, wonach alle mit solch Inbrunst suchen, als hinge das Seelenheil davon ab? Und, eigentlich hängt es ja davon ab. Nun, zur Klärung dieser Frage wollen wir zuallererst die kompetente Meinung des Herrn Wolfram von Eschenbach einholen, der in seinen Helden Parzival eher unbedarft in die Gralsburg stolpern und dort Wundersames erblicken lässt:

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Kleiner Zwischenraum

Parzival (I,5/231 15ff)

Da saß manch guter Ritter ,
dem man Trauriges vorbeitrug.
ein Knappe sprang zur Tür herein,
der eine Lanze trug
(eine Sitte, die zum Trauern anregen konnte):
Aus deren Spitze quoll Blut
und lief den Schaft hinunter auf die Hand,
und wurde erst vom Ärmel gestillt.
Lauthals wurde gejammert und geklagt
im weiten Palas:
Das Volk von dreißig Landen
möchte es ihnen nicht gleichtun mit den Tränen.
Er trug sie in seinen Händen
alle vier Wände entlang,
bis er wieder bei an der Türe war.
Dort eilte er wieder hinaus.
....
Nach ihnen (Anm.: Jungfrauen) kam die Königin.
Ihr Antlitz leuchtete so strahlend,
dass alle wähnten, die Sonne steige auf.
Die Jungfrau war gekleidet
in arabischen Seidebrokat.
Auf grünem Achmardî
trug sie des Paradieses Glück,
sowohl Wurzel als auch Spross.
Das war ein Ding, das hieß Der Gral
und es übertraf alle Glückseligkeit auf Erden.
Repanse de Schoye hieß sie,
von der sich der Gral tragen ließ.
Der Gral war von solcher Art:
Wohl musste unberührt sein,
wer ihn hüten sollte,
keine Falschheitan sich haben.
....
man sagte mir, und dies beteure auch ich
- und nehme es auf euren Eid -
dass vor dem Grâl war bereitet
(sollte ich die Unwahrheit sagen,
so lügt ihr mit mir)
wonach man nur die Hand ausstrecken mochte,
dass man alles fand
warme Speisen und kalte Speisen,
neue Speisen und Altbewährtes,
Zahmes und Wildes.
'Das kann nicht sein',
so wird mancher sprechen.
Doch das ist ein gehässiger Mensch.
Denn der Gral war die Frucht des Heils,
der Welten Süßigkeit in solcher Fülle,
er glich beinahe dem,
was man vom Himmelreich erzählte.
....

Parzival (I,5/231 15ff)

Dâ saz manec ritter cluog,
dâ man jâmer vür si truoc.
ein knappe sprang zer tür dâr in.
der truog ein glaevîn
(der site was ze trûren guot):
an der snîden huop sich bluot
und lief den schaft unz ûf di hant,
deiz in dem ermel wider want.
dâ wardt geweinet unt geschrît
ûf dem palase wît:
daz volc von drîzec landen
möhtz den ougen niht enblanden.
er truoc si in sînen henden
alumb zen vier wenden,
unz aber wider zuo der tür.
der knappe spranc hin ûz dervür.
....
nâch den kom diu künegîn.
ir antlitze gap den schîn,
si wânden alle ez wolde tagen.
man sach die maget an ir tragen
pfellel von Arâbî.
ûf einem grüenen achmardî
truoc si den wunsch von paradîs,
bêde wurzeln unde rîs.
daz was ein dinc, daz hiez der Grâl,
erden wunsches überwal.
Repanse de schoy sie hiez,
die sich der grâl tragen liez.
der grâl was von sölher art:
wol muose ir kiusche sîn bewart,
diu sîn ze rehte solde pflegen:
diu muose valsches sich bewegen.
....
man sagte mir, diz sage ouch ich
ûf iuwer ieslîches eit,
daz vor dem grâle waere bereit
(sol ich des iemen triegen,
sô müezt ir mit mir liegen)
swâ nâch jener bôt die hant,
daz er al bereite vant
spîse warm, spîse kalt,
spîse niewe, unt dar zuo alt,
daz zam unt daz wilde.
esn wurde nie kein bilde,
beginnet maneger sprechen.
der wil sich übel rechen:
wan der grâl was der saelden vruht,
der werlde süeze ein sölh genuht,
er wac vil nâch gelîche
als man saget von himelrîche.
....

Kleiner Zwischenraum

Anmerkungen:

Zwei Anmerkungen seinen an dieser Stelle erlaubt: Einerseits jene, dass wir die Ereignisse auf der Gralsburg ganz massiv gekürzt haben. Bedenklich, ja, vor allem, wenn man das Geschehen zumindest ansatzweise verstehen möchte. Doch dazu gilt es zu sagen, dass wir ja keineswegs die Absicht haben, die zahlreichen Buchausgaben zu ersetzen. Allenfalls die, Lust aufs eigene Weiterlesen zu machen.

Andererseits sei betont, dass wir uns ebenfalls nicht anmaßen, zu den vielen gelehrten und sehr tiefsinnigen Untersuchungen, die es über die Natur des Grals schon gibt, Neues oder auch nur einigerseits Bedeutsames hinzuzufügen. Offensichtlich ist das Thema aber so tiefgründig, dass es jetzt, gute 800 Jahre nach Entstehung des angeführten Textes immer noch eine ganze Menge darüber zu diskutieren gibt. Und die menschliche Phantasie bewegt dieses 'Ding' ja allemal; zu dieser Erkenntnis bedarf es nicht einmal ei- nes genaueren Hinsehens auf aktuelle Bestsellerlisten. Interessant ist es somit allemal, einen eigenen Blick auf die Originalquellen zu werfen. Und da gebührt Wolfram nun einmal ein ganz prominenter Platz.

Aber ach, schon die Lektüre dieser ersten Stelle im Parzival, wo dem verdutzten Toren blutender Speer und dieses wundersame Ding vorbeigetragen werden, dessen Betrachtung schon die Freuden des Himmelreiches vorwegzunehmen scheint, macht uns deutlich, dass wir nicht unbedingt mit klaren Antworten rechnen können. Wie dem armen Parzival steht auch uns niemand zur Seite, der uns erklären würde, worum es sich den dabei nun wirklich handelt.

Immerhin erfahren wir bereits einige wundersame Eigenschaften des Grals, so jene Tischleindeckdich-Allüren, die uns ein wenig an keltische Vorbilder denken lassen könnten, an den Kessel des dreigesichtigen Dagda etwa, der niemals geleert werden konnte, aber auch der Speer des Lichtgottes Lug kommt in den Sinn, wenn der Knappe in den Saal springt. Klar auch, dass die Jungfrau, die den Gral tragen kann, nur eine makellos reine sein kann. Doch schon bei der Beschreibung - des Grals und nicht die der Jungfrau, denn die ist klarerweise ein Bild von einer Frau - lässt uns Wolfram vorerst im Unklaren. Immerhin erfahren wir später, dass es sich um einen Stein handeln soll, der vom Himmel gefallen ist.

Moment, ein Meteorit vielleicht? Gibt es da nicht in Mekka etwas ähnliches? Einen Heiligen Stein, der in die Außenmauer der Kaaba eingelassen ist, ebenfalls vom Himmel gefallen? Sollte also, wie manchenortes behauptet, der Gral aus östlichen Wurzeln erwach- sen und nicht aus dem keltischen Westen herrühren? Wo doch Wolfram die Gralsgemeinschaft in einer Form schildert, die an Ritter- orden - deren Arbeitsplatz zumindest anfänglich in Outremer gelegen ist - erinnert?

Allerdings, soviel sei an dieser Stelle schon verraten, andere Autoren haben andere Ansichten über die Beschaffenheit, so der nicht gänzlich unbekannte Chrétien de Troyes, Vorlagengeber für Wolfram (wenn nicht doch der geheimnisvolle Kyot), der den Gral als weite, stufenförmige Schüssel auftreten lässt, wie sie in zeitgenössischen Adelshaushalten zum gleichzeitigen Auftragen mehr- erer Gänge übereinander verwendet wurde. Schüssel oder Stein, das ist also die Frage?

Nein, auch das wäre noch zu einfach. Denn da gibt es ja noch den Joseph von Arimathia, jenen Kaufmann, in dessen Garten Jesus ins Grab gelegt wurde und der unter dem Kreuz das Blut Christ in einem Kelch gesammelt haben soll. Und genau dieser Kelch wie- derum soll nach Robert von Boron - erraten - der Gral sein. Oder auch der Kelch des letzten Abendmahls. Oder ....

So und damit stehen wir nun wieder hier als Tor, genauso klug wie zuvor ... Aber, es soll uns ein Trost sein, so wie wir, so wie all die gelehrten Forscher, wussten auch die strahlenden Ritter wohl nicht genau, wonach sie eigentlich fahndeten. Beste Voraus- setzungen also für mehrjährige Selbstfindungsaktionen, dann nämlich, wenn man keine Ahnung hat, wie er aussieht, dieser Gral, was genau er ist, wo man zu suchen hat und ob man überhaupt dazu auserwählt ist, diese verhexte Burg zu finden, die immerzu ihre Lage ändern kann. Aber ein ziemlich wertvolles Ding eben, nach dem es sich zu suchen lohnt. Wenn man ehrlich ist, es gibt unsinnigere Sachen, um sich die Zeit zu vertreiben. Und nun, man möge mich entschuldigen, werde ich mal das Fernsehprogramm suchen gehen und ...

Weiter zum zweiten Teil von Wolframs Gralsschilderung ...

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