Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Eine Beschreibung des Erstgeburtsrecht in Wolframs Parzival

Gahmuret, Parzivals zukünftiger Vater, verläßt seine Heimat Anjou.  Cod. Pal. germ. 339, um 1445

Wolfram von Eschenbachs Parzival wird häufig als tiefgründigster höfischer Roman bezeichnet. Ungeachtet aller Sinnesbezüge bie- tet das Werk, dass vermutlich kurz nach 1200 entstanden ist, aber auch zahlreiche Anspielungen und Verweise auf aktuelle Ereig- nisse seiner Zeit. So lassen sich manch Gebräuche erkennen, wie auch in dem hier gebotenen Auszug aus dem ersten Buch.

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Parzival (4/27ff)

Auch heute noch ist es üblich, wie damals,
überall dort wo französisches Erbecht galt.
Auch auf deutscher Erde ist es mancherorts Brauch,
was ihr auch ohne mich wisst:
Wer immer dort das Land beherrschte,
der konnte ohne Schande verfügen
- kaum glaublich aber wahr -,
dass der älteste der Brüder
das gesamte väterliche Erbe bekommen sollte.
Das war das Unheil der Jüngeren,
dass ihnen der Tod entzog,
was ihnen ihres Vaters Leben gönnte.
Vorher war ihnen alles gemeinsam gewesen,
was nun nur noch der Ältere besaß.
Gewiss hat es ein weiser Mann so eingerichtet,
dass das Alter Besitz haben soll,
denn die Jugend hat viele Vorzüge,
während das Alter Seufzen und Leid mit sich bringt.
Nichts ist denn schlimmer
als Alter und Armut.
Könige, Grafen und Herzoge
- es ist nicht erlogen, was ich euch sage -
dass die da ihres Landes verlustig gehen,
bis auf das älteste Kind,
das ist ein eigenartiger Brauch.

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Anmerkungen:

Altes germanisches Recht sprach jedem legitimen Sohn einen Anteil des väterlichen Erbes zu. Dies führte, soferne mehrere Söhne den Vater überlebten zwangsläufig zu einer Aufteilung und im Laufe der Generationen zur Zersplitterung des Besitzes. Andererseits musste es im Interesse von Herrschern liegen, den Erben eine möglichst ungeschmälerte Machtbasis zu hinterlassen.

Schon Ludwig der Fromme, Sohn Karl des Großen, versuchte die Teilung des Karolingerreiches durch eine Erbfolgeregelung zu ver- hindern, welche den ältesten Sohn eindeutig bevorzugte (siehe dazu auch die Artikel über die Nachfolgeregelungen Karls - 'Divisio regnorum' - und Ludwigs - 'Ordinatio imperii'). Tatsächlich setzte sich in der Folge beim französischen Adel das Prinzip der Primogenitur durch, also das alleinige Erbrecht für den Erstgeborenen.

Im Gegensatz dazu blieb es in den deutschsprachigen Gebieten noch lange Zeit üblich, das Erbteil unter allen Söhne aufzuteilen. Auch in Wolframs Zeit war dies durchaus noch die übliche Variante, wie aus dem verwunderten Tonfall, den Wolfram im oben an- geführten Textauszug anschlägt, zu erkennen ist. Natürlich waren den Autoren der mittelhochdeutschen höfischen Romane die französischen Gebräuche nicht unbekannt. Schließlich waren Frankreichs Höfe Ausstrahlungspunkt und Vorbild für die ritterliche Adelskultur. Und gerade Wolfram war es ja auch, der eine Menge französischer Ausdrücke mit seinem Werk in die mittelhochdeut- sche Literatur einbrachte.

So wird man diese Verwunderung eher als literarisches Stilmittel verstehen dürfen, mit dem er wohl dem deutschsprachigen adeli- gen Publikum zu gefallen dachte. Etwa in dem Sinne: 'Nein, seht doch bloß, welch eigenartige Sitten es dort gibt ...!' Denn gerade in jener Epoche begann sich das französische Erbfolgerecht auch in einigen deutschsprachigen Gebieten durchzusetzten. Vor- nehmlich in jenen Gegenden war dies der Fall, die engere Kontakte und einen regen Austausch mit ihren französischen Nachbarn pflegten, was häufig auch durch dynastische Beziehungen gefördert wurde - vor allem in den rheinländischen Grafschaften, aber auch in der Heimat Wolframs, dem fränkisch-bayrischen Gebiet.

In Wolframs Werk ist es Gahmuret, dem dieses traurige Schicksal des Nachgeborenen widerfährt. Zum Glück, wie wir rückblickend attestieren müssen. Andernfalls nämlich wäre der künftige Vater Parzivals wohl in seiner komfortablen Stellung im heimatlichen Anjou verblieben. Was wiederum bedeutete, dass wir schwerlich je erfahren hätten, wie wichtig es sein kann, die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt zu stellen ...

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