'Man sol sich zem tische vast bewarn ...' - Thomasins Tischzucht
Wenn hier ausschnittsweise einige Verse aus dem Lehrgedicht 'Der Welsche Gast' des Thomasin von Zerklaere wiedergegeben wer- den, dann mag der werte Leser bereits aus der getroffenen Auswahl erkennen, dass der dargestellte Textausschnitt die aktuelle Artikelserie über das höfische Fest ergänzen soll. Denn solch ein Festablauf ergibt sich einerseits natürlich aus all den Planungen, Absichten und Vorkehrungen, die der Gastgeber getroffen hat.
Menüpläne, Gänge, Auftritte und spektakuläre Vorführungen sind aber nur ein Teil des Festgeschehens. Auf der (wortwörtlich) an- deren Seite der Tafel treffen wir die Gäste an. Und deren Benehmen soll dem festlichen Geschehen selbstverständlich ebenfalls angemessen sein. Darum finden sich mittelalterliche Schriften, die Vorschriften für den noblen Herren und die edle Dame geben, wie sie sich bei Tische zu benehmen haben. Als eines der ältesten Beispiele für eine derartige Tischzucht im deutschen Sprach- raum sei hier auszugsweise aus dem Lehrgedicht des Thomasin von Zerklaere zitiert:
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Der welsche Gast
(2. Kapitel, V.471ff)
Der möge bei Tisch gut achtgeben,
der sich richtig verhalten will;
dazu bedarf es einer guten Erziehung.
Ein jeglicher trefflicher Gastgeber, achte auch
darauf, dass alle genug bekommen.
Der Gast sei so wohlerzogen,
dass er sich so verhält,
als ob er davon nichts bemerke.
Wer richtig Bescheid weiß,
der soll, wenn er mit dem Essen beginnt,
nichts außer dem eigenen Essen
mit der Hand anrühren, das ist wohlgetan.
Man soll das Brot nicht schon essen,
bevor die ersten Gerichte aufgetragen sind.
Ein Mann soll sich davor hüten,
dass er nicht beidseits
in den Mund stopfen soll.
Dabei soll er sich in Acht nehmen,
dass er weder trinke noch spreche,
solange er noch etwas im Munde hat.
Wer sich mit dem Becher seinem Tischnachbarn
zukehrt, als ob er ihn teilhaben lassen wolle,
bevor er ihn noch vom Munde abgesetzt hat,
den hat der Wein dazu verleitet.
Wer trinkend über den Becherrand sieht,
der zeigt kein höfisches Verhalten.
Ein Mann soll nicht so gierig sein,
dass er sich vom Nachbarn das nimmt,
was ihm zusagt,
denn man soll nur von seiner Seite essen.
Man soll immer essen
mit der entgegengesetzten Hand.
Sitzt dein Nachbar zur rechten Hand,
dann iss mit der anderen zugleich.
Man soll auch das unterlassen,
dass man mit beiden Händen isst.
Man soll auch nicht zu gierig sein,
dass man mit dem Nachbarn zugleich
seine Hand in die Schüssel steckt,
denn er zieht seine dann sofort zurück.
Der Wirt soll auch auf solche Speisen verzichten,
die seine Gäste nicht mögen,
die ihnen ungemein ist.
...
Nach dem Essen soll der Hausherr
Wasser reichen lassen, das gehört sich.
Da soll sich aber kein Knappe
darin waschen, das ist recht.
Will sich ein Jungherr waschen,
dann soll er weit abseits gehen
von den Rittern und sich heimlich waschen,
das ist höfisch und den Augen wohlgefällig.
Der welsche Gast
(2. Kapitel, V.471ff)
Man sol sich zem tische vast bewarn,
der nâch rehte wil gebârn;
dâ hoeret grôziu zuht zuo.
ein iegelîch biderb wirt, der tuo
war, ob si alle habent genuoc,
der gast, der sî sô gevouc,
daz er tuo diu glîche gar,
sam er dâ nihtes neme war.
swelich man sich rehte versinnet,
swenner ezzen beginnet,
so enrüer niht wan sîn ezzen an
mit der hant, deist wol getân.
man sol daz brôt ezzen niht,
ê man bringe d'êrsten riht.
ein man sol sich behüeten wol,
daz er niht legen sol
bêdenthalben in den munt.
er sol sich hüeten zuo der stunt,
daz er trinke und spreche niht,
di wîl er hab im munde iht.
swer mit dem becher zem gesellen
sich kêrt, sam er im geben welle,
ê ern von dem munde tuo,
den hât der wîn gebundn derzuo.
swer trinkend ûz dem becher siht,
daz stât hüfschlîche niht.
ein man sol niht s1in ze snelle,
daz er neme von sîme geselle,
daz im dâ gevellet wol,
wan man sînhalb ezzen sol.
man soll ezzen zaller vrist
mit der hant, diu entgegen ist.
sitzet dîn gesell ze der rehten hant,
mit der anden iz zehant.
man sol ouch daz gerne wenden,
daz man nien ezz mit bêden henden.
man sol ouch niht s1in ze snelle,
daz man tuo mit sîme gesellen
in die schüzzel sîne hant,
wan er nimt si ûz zehant.
der wirt sol ouch der spîse entpern,
der sîn geste niht engern,
diu in ist ungemeine.
...
der wirt nâch dem ezzen sol
daz wazzer geben, daz stât wol.
dâ sol sich dehein kneht
denne dwahen, daz ist reht.
wil sich dwahen ein juncherre,
der sol gân einhalp verre
von dern rîtern und dwahe sich tougen,
daz ist hüfsch und guot zen ougen.
Anmerkungen:
Gleich vorweg: Der 'Welsche Gast' ist ein Lehrgedicht, welches sich an den jungen Adeligen richtet, und ihn in 10 'Büchern' (was wir Heutigen wohl mit Kapitel umschreiben würden) und knapp 15000 Reimpaarversen zur höfische Tugend ermahnt. Dass in dieser umfassenden Sittenlehre, die der romanische Domherr um 1215 in deutsch-österreichischem Dialekt innerhalb weniger Monate ver- fasst haben soll, das Verhalten bei Tische nur eine Randnotitz sein kann, versteht sich von selbst.
Es soll daher auch hier gar nicht die Stelle sein, den Autor und sein einflussreiches Werk, das uns in zahlreichen Handschriften überliefert ist, zu besprechen, wiewohl es genügend Interessantes und Kontroverselles zu besprechen gäbe. Denn speziell feminis- tische Kreise würden wohl manch eine seiner Aussagen gerne hinterfragen ... Diesbezüglich mag der Leser auf einen sicherlich noch folgenden Artikel vertröstet werden.
Wenn man nun Thomasins Ermahnungen betrachtet, welche sich auf das Verhalten beim festlichen Mahle beziehen, dann lassen sich diese ebenfalls unterschiedlich bewerten. Die einen mögen sich in ihrer Meinung über die Primitivität des mittelalterlichen Men- schen bestätigt sehen (denn wer von uns modernen, aufgeklärten Menschen würde schon seinem Sitznachbarn die besten Lecker- bissen vom Teller klauen ...), obwohl uns der klerikale Autor mit den schlimmsten Auswüchsen verschont - so etwa vor der Erwäh- nung des berüchtigten Schneuzens in die Tischtücher. Denn, so die Verfechter dieser Meinung, wer solche Vorschriften nötig hat, dessen Verhalten mag man sich ohne diese lieber nicht vorstellen.
Andere werden sich beeilen, den Fortschritt zu betonen, den die Gesellschaft im Hochmittelalter mit der Verfeinerung ihrer Sitten gemacht hat, wofür sie eben genau jene Tischzuchten als Zeugen heranrufen. Ist den nicht auch unser Knigge ein Zeugnis für gehobene Umgangsformen, werden sie sagen ...
Die Wahrheit wird, wie so häufig, irgendwo zwischen diesen beiden Ansichten liegen. Denn auch heutzutage wird es uns gelingen, Menschen aufzutreiben, die im feinen Restaurent oder im Bierzelt unterschiedliches Verhalten und unterschiedliche Ettikette an den Tag legen. Und zur Ehrenrettung des obgenannten mittelalterlichen Speiseräubers sei erwähnt, dass der Autor dieser Zeilen bei einem Empfang samt zugehörigem Freibuffet (oder umgekehrt?) während seiner Studienzeit mitterleben durfte/musste, wie in der Schlacht um das Buffet in unbeobachteten Momenten die Teller der Mitkommilitonen in brutalster und gnadenloser Weise leerge- plündert wurden ...
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