Sul ich diesen sumer lang ...
Ja, ja, hab ich dir's nicht vorhergesagt? Dich nicht gewarnt? So könnte die Antwort der Amme auf den Stoßseufzer und die Bitten der kindgeplagten jungen Mutter lauten, ihr doch endlich das schreinde Wonnesprößlein abzunehmen. Und ja, so werden wohl auch die Mütter unserer Leserschaft und hoffentlich auch manch ein Vater verstehend mit dem Kopf nicken: So kennen auch wir es. Wann, wann wird es endlich wieder Tag, wann ist diese nicht endend wollende Nacht endlich vorbei ...
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Sollt ich mich diesen Sommer lang
Sollt ich mich diesen Sommer lang
mit Kindern herumschlagen müssen,
dann wär ich lieber tot!
Das verleidete mir alle Freude,
sollt' ich nicht bei den Linden
den Reigen tanzen: Ach, welch Elend!
Wiegen, wagen, schauklen und gagen,
wann wird's endlich tagen
Liebe, Liebe, süsse Liebe - still,
ich will dich wiegen!
Amme, nimm du das Kindlein,
damit es nicht weint!
Bin ich dir ein wenig lieb,
dannlindere mir meine Not!
Du alleine kannst mich
von meinen Sorgen befreien!
Wiegen, wagen, schauklen und gagen,
wann wird's endlich tagen
Liebe, Liebe, süsse Liebe - still,
ich will dich wiegen!
Sol ich disen sumer lang
Sol ich disen sumer lang
bekümbert sîn mit kinden,
sô wær ich lieber tôt.
des ist mir mîn fröide krank,
sol ich nicht ze den linden
reigen: owê dirre nôt!
Wigen wagen, gugen gagen,
wenne wil ez tagen?
minne, minne, trûte minne, swîg,
ich wil dich wagen!
Amme, nim das kindelîn,
daz ez niht enweine!
als lieb ich dir sî:
ringe mir die swære mîn!
dû maht mich alleine
mîner sorgen machen frî.
Wigen wagen, gugen gagen,
wenne wil ez tagen?
minne, minne, trûte minne, swîg,
ich wil dich wagen!
Anmerkungen:
Doch warum sollte die Amme, die im geschilderten Zusammenhang viel eher als Mutter oder Base zu sehen ist, denn wirkliche Amme (hat sich doch Herr Gottfried von Neifen, dem der Codex Manesse dieses Lied zuschreibt, etwa um 1230 häufig mit seinen Motiven in die ländlich-bäuerliche Umgebung begeben, in der die jungen Mütter anders als die adeligen Damen kaum auf Ammen zurückgreifen konnten), sich so rechthaberisch geben?
Weil wir doch tatsächlich ein Sommerlied Neidharts (des von Reuental) kennen, mit einer Ermahnung der Mutter an die Tochter, die vorhat zum Reigen unter den Linden zu entschlüpfen - wohl ein beliebter Zeitvertreib für die jungen Leuter beiderlei Geschlechts (der, wie es die Ermahnungen vermuten lassen, nicht immer nur auf Drehen und Springen beschränkt blieb, sondern manch einen Ausflug ins hohe Gras und manch ein geknicktes Bümlein beinhaltete ... unter Umständen auch mit unerwünschten Folgen ...).
Und weil in jenem Lied die Mutter der Tochter genau jenes Szenario vorhersagte, wenn sie denn nicht vorsichtig wäre, das wir nun in Gottfrieds - man könnte fast meinen - Antwort auf Neidhart sehen: Die junge Mutter wiegend, die Wiege am Fuß, und beinahe verzweifelnd am Kindlein, das just nicht schlafen mag und - schlimmer noch! - dem Mädchen alle Aussichten verleidet, diesen säuglingsbehafteten Sommer über am erhofften Tanzspaß teilnehmen zu können.
Habt also gut acht, ihr Mägdelein - denn zuviel Spaß verdirbt manchmal den Spaß! Fast möchte man meinen, diese Warnung aus dem Lied des Autors herauszuhören. Andererseits - sind diese Lieder nicht für ein höfisches Publikum geschrieben, das unterhalten werden wollte? Schadenfreudig sein dabei? Oder gar ein wenig erotisch erregt? Denn nicht weniger glaubt man in den Wiegezeilen, die wohl lautmalend das Wiegenlied imitieren sollen auch herauslesen zu können als den Kontext zu anderen schaukelnden Tätigkeiten, die neusten Forschungsergebnissen zufolge dem Wiegen um einige Monate vorausgehen sollen ...
Schluss mit derartigen Assoziationen. Dafür geben wir uns ... nun, ja ... aber nun zu etwas gänzlich anderem: Nämlich der Tatsache, dass einige Motive, die Gottfrieds Lied sichtbar werden, durchaus ihre Entsprechung im hohen Minnesang finden: Wer kennt nicht das Tageslied, mit der Frage, wann der Tag naht, wer nicht die Klage, lieber sterben zu wollen, als des Geliebten (hier aber des Tanzes) verlustig zu gehen, wer nicht die Hoffnung auf Erretung (hier aber nicht durch den Geliebten, sondern durch ausgerechnet eine Amme!).
Und so betrachtet, möchte man fast meinen, in Herrn Gottfried parodierenden Schelm zu erkennen, der virtuos verschiedene Gattungsversatzstücke zu seinem, das Publikum sicherlich erheiternden Lied zusammentrug ...
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