Schreibung und Aussprache mittelhochdeutscher Texte - Teil 3
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Zum ersten Mal: die Aussprache*
Auch wenn der Blick auf das Thermometer anderes zu sagen scheint: Der Sommer naht! Und mit ihm die Wochen, in der uns Abenteuerlust und Wandertrieb ergreifen, in der fremde Länder, mit ihren fremden Sitten, fremden Gerichten und fremden Sprachen locken. Wäre da jetzt nicht genau die rechte Gelegenheit, eine solche fremde Sprache zu einer weniger fremden zu machen? Ja, sprecht ihr nun; genau! Und wir antworten, dann lasst uns eine lernen. Aber, beileibe, nicht irgendeine. Eine, deren Wohlklang unser Ohr erfreut und deren Konsonanten und Vokale, deren Diphtonge und Dentale, Labiale und Gutturale uns süß von der Zunge und über die Lippen perlen, soll's schon sein. Eine Kultursprache mindestens, in der große (und auch kleine) Dichter ihre Werke dichteten. Und eine, die uns nützlich ist, wenn schon nicht im täglichen Leben, dann zumindest in der verbleibenden Zeit.
Bedenkt ihr, geneigte Leser, dies alles nun genau, dann werdet ihr - daran zweifeln wir nicht im Geringsten - ausrufen: Es kann nur Eine geben! Ein Sprache nämlich, die als erste zu lernen sich lohnt! Und nein, es ist nicht Isländisch - aber das kommt gleich an zweiter Stelle. Mittelhochdeutsch muss es schon sein! Vielleicht hat der eine oder andere von euch schon bemerkt, dass wir von Sælde und êre dieses wichtige Bildungsziel zu fördern trachten; ja geradezu einem Bildungsauftrage nachkommen, indem wir die mittelhochdeutsche Texte solch vielversprechender Nachwuchspoeten wie etwa des jungen Walther von der Vogelweide oder der sogar noch jüngeren Reinmare auf unsere Seite stellen.
Moment, wird jetzt der eine oder andere sagen, wir sprechen (von) Mittelhochdeutsch; das ist doch Deutsch und keine Fremd- sprache! (Nun ja, in Zeiten von Pisa ..., egal ...) Diese Aussage ist zu 100% richtig - und ein wenig falsch. Denn ganz so leicht zu verstehen ist das Ganze dann doch wieder nicht; auch deshalb, weil nicht nur manch Vokabel seit den seligen Zeiten von Gottes- urteil, Kirchenzehent und der persönlicher Fehde verloren gegangen ist, sondern - viel heimtückischer - weil auch manch anderes Wort einen Bedeutungswandel erlitten hat.
Also gilt's zuerst, diese Tücken zu bekämpfen - was wir an manch anderer Stelle auf unserer Seite ja bereits versucht haben - ehe wir uns des Mittelhochdeutschen mächtig fühlen dürfen. Aber wieder Achtung: Dann sprechen wir ein vereinheitlichtes (auch 'normalisiertes') Mittelhochdeutsch, wie es uns aus den diversen Textausgaben entgegenlacht - und wie es so vermutlich nie existiert hat. Denn Deutsch, das war damals eine große Anzahl unterschiedlicher Dialekte; am besten verstehen wir die damalige Situation, wenn wir uns einen Tiroler oder Vorarlberger vorstellen und dem guten Alpenländler einen Friesen an die Seite gesellen - ihre gegenseitigen Verhandlungen aber ohne die Verwendung von Hochdeutsch ablaufen lassen. Oder nimm einen Bayern und einen Preussen ... Verzeihung. Andererseits besuchten damals auch noch nicht so viele Vorarlberger Frieslands Kulturdenkmäler ...
Deutsch ist also nicht Deutsch; neben den regionalen Besonderheiten des Wortschatzes kommt aber noch die unterschiedliche Aussprache als erschwerender Punkt dazu - das weiß nun wirklich ein jeder, der schon einmal einen Österreicher und einen Inder auf Englisch schwätzen hörte. Schwerer als die Inder nämlich versteht man eigentlich nur noch - richtig! - Engländer und Ameri- kaner (von Schotten, Iren und Walisern ganz zu schweigen ...). Damit jene Aussprachebesonderheiten nicht dazu führen, dass uns unsere nächste Minnebekanntschaft an den sonnigen Gestaden eines romantischen Schottersees nur verständnislos anglotzt, oder bestenfalls ein 'Was wüst'n, Oida?'** entgegenflötet, wollen wir hier einige der (auf neuzeitliche Übereinkunft basierenden) Ausspracheregeln für Mittelhochdeutsch in einer lockeren Folge von Artikeln widergeben
Klar muss uns sein, dass es ein 'Mittelhochdeutsch' nicht gab; wie oben schon betont, gab's nur die lokalen Dialekte. Wer also ein Gefühl dafür bekommen möchte, wie sich das Nibelungenlied am Hofe zu Passau anhörte, wird einerseits diese angeführten Ausspracheregeln zu berücksichtigen haben (mehr oder weniger); vor allem aber gut daran tun, sich in bayrisch-oberösterreichisch- er Aussprache zu üben: da heisst es eben nicht Bruder oder Mutter oder schlüpfen, sondern ... ach, am besten einfach mal auf Urlaub dorthin fahren ... . So und damit wir jetzt nicht die ganze Stunde nur verplappert haben, kommt nun die erste Regel. Nehmt also alle eure Hefte raus und schreibt mit:
1. Im Mittelhochdeutschen wird üblicherweise die erste Silbe hauptbetont (das zugehörige Zeichen sei uns das ´); auch in Wörtern, bei denen dies heutzutage nicht mehr der Fall ist: etwa 'lébendec' statt lebéndig, 'hólunder' statt Holúnder.
Allerdings wurden manche Wörter, die fremde Wurzeln besaßen, und die man heute deutsch betont (auf die erste Silbe) noch gemäß ihrer Herkunft betont; etwa 'Davíd' statt Dávid.
Damit es aber nicht nur graue Theorie bleibt, was hier besprochen, empfehlen wir den Lernwilligen, diese erste Regel, damit sie auch in Fleisch und Blut übergehen möge, ins tägliche Deutsch zu übertragen. Führt ab sofort sämtliche Gespräche in besagter Betonung (etwa: 'Díeser élendige Hálunke ist ímmer noch lébendig!' - nebst dem Erwerb des nötigen Sprachgefühls wird euch dann auch die Aufmerksamkeit eurer Zeitgenossen gewiss sein ...
(* .... zu der wir allerdings in diesem ersten Artikel über die Aussprache kaum schon etwas schreiben werden; schließlich wissen wir über unsere Geschwätzigkeit selbst nur allzugut Bescheid ...)
(** ... was übrigens nicht bedeutet 'Was? Wüste? Alle da?', sondern vielmehr 'Würden Sie bitte so freundlich sein, und mir den Grund ihrer Gesprächsanbahnung erklären?')
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