Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Walthers Winterklage ...

Februar - Bildausschnitt aus dem entsprechenden Monatsbild; Grimaldi Breviar, flämisch, 1510

Nehmen wir mittelalterliche Lyrik zur Hand, wie häufig finden wir uns da nicht im selben Szenario wieder! Da wird vom Mai geschwärmt, von lustig zwitscherndem Vogelvolk im knospenden Geäst, von den jungen Mägden, die sich, wenn sie nicht gerade duftende Kränze flechten, lachend beim Ballspiel oder Tanz ergötzen! Und die, anschließend, den liebeshungrigen Verehrern vielleicht sogar einen Spaziergang in trauter Zweisamkeit gewähren - über farbgesprenkelte Blumenwiesen, durch weiches, frisches Gras. Tandaradei ...

Ja, über die Vergnügungen des Frühlings lässt sich viel schreiben; bedeutend weniger vernehmen wir da schon von den anderen Jahreszeiten - insbesondere von der eisig-kalten Winterszeit, die bei einer Befragung der Zeitgenossen dieser verflossenen Jahrhunderte in deren Beliebtheitsskala wohl höchstens den sechsten oder siebten Platz von vier möglichen eingenommen hätte! Dennoch findet sich da und dort die eine oder andere Strophe, die uns etwas über die lichtscheuen Monate um den Jahreswechsel zu sagen wissen.

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Kleiner Zwischenraum

Uns hat der Winter überall geschadet

Uns hat der Winter überall geschadet:
Heide und Wald sind beide nun fahl,
dort, wo viele Stimmen süß widerhallten.
Sähe ich doch die Mädchen auf der Straße den Ball
werfen! Dann käme uns der Vogelgesang zurück.

Könnte ich die Zeit des Winters verschlafen!
Wache ich in dieser Zeit, so hasse ich ihn,
weil seine Macht so weit reicht.
Weiß Gott, er wird dem Mai den Sieg überlassen:
Dann werde ich Blumen pflücken, wo jetzt Reif liegt.

Uns hât der winter geschadet über al

Uns hât der winter geschadet über al:
heide und walt sint beide nu val,
dâ manic stimme vil suoze inne hal.
sæhe ich die megde an der strâze den bal
werfen! sô kæme uns der vogele schal.

Möhte ich verslâfen des winters zît!
wache ich die wîle, sô hân ich sîn nît,
daz sîn gewalt ist sô breit und sô wît.
weiz got er lât ouch dem meien den strît:
sô lise ich bluomen dâ rîfe nu lît.

Kleiner Zwischenraum

Anmerkungen:

Als Beispiel dafür möge uns das berühmte Klagelied des noch berühmteren, von der Vogelweide stammenden Walthers dienen (wer anderer möchte auch so kundig über die Mühen und Unbillen des Winters berichten als er, der lange Zeit seines Lebens von Hof zu Hof ziehen musste, um sich dort Gunst und Unterkunft zu ersingen), dessen lamentierende Strophen ihr oben erlesen mögt.

Doch ach, werdet ihr jetzt rufen! Da ist uns ein Wintergedicht versprochen - jedoch weiß es uns erst recht mehr über die innig herbei ersehnten Frühlingsfreuden zu erzählen als über die Leiden, die der Winter mit sich bringt. Vielleicht aber, werfen wir hier ein, ist es gerade diese Sehnsucht, welche uns Heutigen in dieser Intensität nicht mehr recht verständlich ist, die uns verrät, schlimm und unerträglich die Winterszeit von unseren Vorfahren empfunden wurde - und für sie wohl auch zu ertragen war.

Man braucht sich dazu ja nur die Umstände der damaligen Zeit vor die Augen führen: Konnten sich doch nur ein Bruchteil der (damals noch überwiegend bäuerlichen) Bevölkerung teure wächserne Kerzen leisten; allenfalls Talglichter waren es, die die schlecht gedämmte, nicht selten ungeheizte Stube mehr verrussten denn erhellten. Mit dem Untergang der Sonne verkroch man sich ins eisige Bett, oftmals, wenn die herbstliche Ernte schlecht ausgefallen war, mit leerem Magen, vielleicht sogar den Hungertod vor Augen ...

Und jene, die das Schicksal ihrer Geburt in einen höheren Stand versetzt hatte? Die Adeligen? Wohl konnten diese, solange der Schnee das Land nicht erdrückte, immerhin ihrer Jagdleidenschaft frönen, konnten, sofern erfolgreich dabei, Frischfleisch auf den Speiseplan setzen, doch spätestens abends galt es zurückzukehren in die eisigen, steinernen Hallen ihrer Burgen, die selbst Wandbehänge, Teppiche und das lodernde Kaminfeuer nicht in Wohlfühloasen zu verwandeln mochten! Zumal, wenn zwar vielleicht die Kemenate der Damen beheizt wurde, nicht aber die Schlafräume des Gesindes ...

Und in den aufstrebenden Städten? Dem Patrizier, dem reichen Pfeffersack mag es dort ja noch einigermaßen wohl ergangen sein, aber was war mit den Armen, den Bettlern, wenn die ungepflasterten Straßen sich in schlammigen Morast oder pickelhart gefrorenen Untergrund? Da mag man schon verstehen, dass ein jeder, insbesondere auch unsere fahrenden Dichter, den Frühling und all seine oben beschriebenen Freuden mit ganzem Herzen herbeisehnte! Warum hätte man also im Winter über den Winter schreiben sollen, wo man doch ohnehdies fror und hungerte und zudem viel Zeit hatte, um in den klirrend langen Nächten vom Mai zu träumen ...

Zum Abschluss seien noch einige Worte an jene gerichtet, die sich darob verwundern, dass hier nur zwei Strophen der Winterklage angeführt sind, wo sie vielleicht fünf davon kennen. Tatsächlich ist die Klage (die von Thematik und Rhythmus her) als Tanzlied komponiert worden sein könnte, in drei Handschriften überliefert.

Während sie in der Würzburger Liederhandschrift in besagten fünf Strophen erscheint (mit zudem vertauschter Reihenfolge der hier angeführten Strophen), sind in den älteren Weingartner und großen Heidelberger (Codex Manesse) Liederhandschriften nur die beiden oben angeführten zu finden; wir haben uns daher auf die unserer Meinung nach 'Originalform' des Liedes beschränkt.

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