Walthers Jugendschelte
'Diese Jugend von heute ...!' Wer kennt sie nicht, solch verzweifelte Ausrufe und Stoßseufzer, die vorzugsweise dann getan werden, wenn wieder einmal eine milchbübisch-pickelgesichtige Horde hoffnungsfroher Nachwuchstalente brüllend und lärmend an situierten Monokelträgern vorbei durch die sich gerade erst öffnenden U-Bahn Türen drängt, derart alte Damen und deren hündische Begleiter entsetzend und - schlimmer noch! - unsereiner aus der Lektüre tiefsinniger, kleinformatiger Lektüre aufschreckend. 'Tss, tss, tss ...', denkt man da, und '... früher, ja früher hätte es so etwas nicht gegeben ...!'
Aber - ist das wirklich so? Sind der Jugend die guten Sitten erst in jüngster Zeit verlorengegangen? Oder hat sie solche nie besessen? Lasst uns dazu einen Zeugen als alter Zeit befragen, einen, dessen Urteil wir ob seines unbestrittenen Ranges unbedingten Glauben schenken dürfen. Lasst uns also hören (oder - in Ermangelung von Ton - auch lesen), was denn der verständige Walther, Walther von der Vogelweide nämlich, zu diesem Problem zu sagen weiß:
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Walthers Jugendschelte
Wer schmückt heutzutage den Saal der Ehren?
Das Benehmen der jungen Ritter ist dürftig,
ebenso treiben die Knappen ganz unhöfische Dinge
mit Worten und auch mit Werken.
Wer Anstand hat, der ist ihnen ein Narr.
Nehmt wahr, wie stark die Roheit sich ausbreitet:
Früher, da züchtigte man die Jungen,
die freche Zungen führten.
Heute verleiht es ihnen Ansehen!
Sie lärmen herum und beleidigen reine Damen.
Weh ihrem Häuten und Haaren,
die sich nicht vergnügt gebären können
ohne den Gram der Frauen!
Da kann man die Sünde neben der Schande sehen,
die manch einer auf sich selbst lädt.
Walthers Jugendschelte
Wer zieret nû der êren sal?
der jungen ritter zuht ist smal,
sô pflegent die knehte gar unhövescher dinge
mit worten und mit werken ouch.
swar zühte hât, der ist ir gouch.
nemet war, wie gar unfuoge für sich dringe!
hie vor dô berte man die jungen,
die dâ pflâgen vrecher zungen.
nû ist es ir werdekeit!
sie schallent und schelent reine frowen.
wê ir hiuten und ir hâren,
die niht kunnen frô gebâren
sunder wîbe herzeleit!
dâ mac man sünde bî der schande schowen,
die maniger ûf sich selben leit.
Anmerkungen:
Jugendschelte scheint also Tradition zu haben: Ob bereits die altehrwürdigen Sumerer und Ägypter unter dem Temperament und dem Verhalten ihrer heranwachsenden Sprösslinge litten? Wahrscheinlich, würden wir es ihnen gönnen; schließlich ist geteiltes Leid bekanntlichermaßen nur noch ein halbes und warum sollten wir Neuzeitlichen auch die einzigen Adoleszenzgeschädigten sein? Auf Keilschrifttäfelchen findet sich zwar nichts derartiges vermeldet. Aber immerhin, sinnieren wir, während wir einem der Rüpel beim Aussteigen zur Revanche den Aktenkoffer in die Kniekehle rammen, hatten die Ägypter ihre zehn biblischen Plagen zu erdulden - womit die Rechnung ja fast wieder ausgeglichen wäre.
Aber schon Hesiod weiß sich um 700 vor Christus konkret zu beklagen über die Manieren des Nachwuchses. Ja, ja, die Griechen - wir nicken anerkennend - die alten, das waren schon recht kluge Leutchen: Philosophie, Demokratie, die Phalanx und Triremen, 'das ist Wahnsinn! Nein, das ist Sparta!' ... Wer sollte also besser befähigt sein, über gute Manieren zu urteilen? Wer besser als Sokrates, der Mentor des göttliches Platon, dem ebenfalls eine heutzutage immer wieder zitierte Jugendschelte in den Mund gelegt wird. Ob sie wirklich von ihm stammt? Egal, was so treffend klingt, muss ja wohl ...
Im sogenannten 'Wiener Hofton' hat sich dann also auch Walther, wie im Originaltext zu lesen, dieses Problems angenommen; übrigens steht der oben zitierte Spruch dort nicht alleine sondern im Zusammenhang mit thematisch ergänzenden - so etwa einer Jugendbelehrung, die sich in direkter Ansprache dem rechten Maß zwischen Verlangen nach und Verachtung von Besitz widmet oder aber, im Rückgriff auf biblische Tradition eine Kritik der Jungen und der Alten, schließlich sind es letztere, die schlechte Erziehung zu verantworten hätten. (Zudem wollen wir hier zu Walthers Verteidigung noch drauf verweisen, dass er keinesfalls als absoluter Verfechter von übermäßiger Gewalt in der Erziehung gesehen werden sollte - schließlich betont er an anderer Stelle recht deutlich, dass niemand mit Gerten Kindeszucht bewirken kann ...)
Sicherheitshalber wollen wir hier zu Walthers Verteidigung an dieser Stelle darauf verweisen, dass er keinesfalls als absoluter Verfechter von übermäßiger Gewalt in der Erziehung gesehen werden sollte - schließlich betont er an anderer Stelle recht deutlich, dass niemand mit Gerten Kindeszucht bewirken kann ... aber das ist bereits wieder ein Thema für einen weiteren Beitrag ..
Dass die dargebrachte Kritik in Sangspruchform erfolgte, ist nicht verwunderlich. Denn die Inhalte dieser einstrophigen Textart, die erst Walther richtig zur Geltung gebracht hat, waren, nebst tagespolitischen Äußerungen und solchen zu privaten Lebensumständen, vor allem auch zur religiösen und moralischen Belehrung gedacht. Der 'Ton', der solche Sprüche zusmmenstellte, stellt somit ein Kompendium von Kommentaren zur Politik und zu gesellschaftspolitischer Kritik dar, Lob für die Gastgeber, Schelte und Häme für deren Gegner, mit dem es sich wohl recht gut von Hof zu Hof reisen ließ.
Das mittelhochdeutsche 'tôn' beziehungsweise 'dôn' steht dabei für die Gesamtheit von metrischem Schema, Reimschema und Melodie der entsprechenden Zusammenstellungen, die wohl jeweils der Auftrittssituation angepasst wurden ...
Nach all dem kommt uns ein Gedanke: Wenn sie denn zu allen Zeiten kritisiert werden, die Jungen, dann liegt es ja vielleicht geradezu in der Natur des jugendlichen Wesens, gegen hergebrachte Sitten und allzu enge Regeln der Alten aufzubegehren - denn wie sonst sollte es andernfalls jemals Änderungen geben? Aber, so fragen wir, muss dieses Aufbegehren unbedingt gerade in unserem Beisein geschehen ...?
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