Sælde und êre - Mittelalterliche Musik

Die Aufführungssituation lyrischer Werke

Schlussstein in Form eines Lautenspielers

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Das Charakteristikum der Mündlichkeit:

Mittelalterliche Lyrik, ja Literatur ganz allgemein, war dazu bestimmt, mündlich vorgetragen oder aufgeführt zu werden. Im Gegen- satz zu unserer modernen Zeit, erreichte der Dichter damit kein breites Massenpublikum - etwa über die Veröffentlichung seiner Werke in schriftlicher Form. Verständlich für eine Zeit, in der die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Lesens und Schrei- bens unkundig war, in der der Buchdruck unbekannt und Abschriften mühsam und langwierig mit der Hand erstellt werden mussten. Zudem beschränkte sich die Zuhörerschaft auf einen engen, elitären Kreis: Minnesang und Sangspruchdichtung, Roman und Hel- denepos sollten das höfische Publikum unterhalten und bewegen. Damit befanden sich die Künstler jedoch in einem engen Abhän- gigkeitsverhältnis zu ihren adeligen Gönnern ...

Nicht selten waren es die Herren selbst, die Minnelieder verfassten und ihre Kunst bei Festlichkeiten zum Besten gaben. Galt es doch zu gewissen Zeiten als 'modern' sich als Verfasser von Minneliedern zu betätigen. So nimmt es nicht Wunder, selbst den spä- teren Stauferkaiser Heinrich unter dieser Schar zu finden. Häufig jedoch werden es Berufssänger gewesen sein, Fahrende, manche adeliger Abstammung, andere nicht, die von Hof zu Hof, von Burg zu Burg reisten um dort Lieder, Spottgedichte, Neuigkeiten auf- zuführen. Manche von ihnen waren bekannt, ja berühmt, wie etwa ein Walther von der Vogelweide - und dennoch hatte auch er sich lebenslang zu mühen, um Gönner zu finden, deren Gunst ihm ein Auskommen sicherte. Diese Unterhaltungskünstler wussten, was am jeweiligen Hof von ihnen erwartet wurde, eine Notwendigkeit, um 'im Geschäft' zu bleiben, und so wird bereits bei der Entstehung manch eines Sangspruches der beabsichtigte Empfängerkreis keine unbedeutende Rolle gespielt haben. Man musste sich eben nach dem Auftraggeber oder Adressaten richten ...

Charakteristisch war es, wie die Inhalte vermittelt wurden - ganz anders jedenfalls als heute, wenn wir abends mangels Alternativ- programm - ja, ja, schon wieder mal nichts Vernünftiges im Fernsehen ;-) - mit einem Lyrikbändchen ins Bett steigen. Der mittel- alterliche Vortragende, der zumeist der Dichter selbst war, und sein Publikum befanden sich im selben Raum - Auge in Auge. Man wird so einen Vortrag vielleicht ganz entfernt mit dem Auftritt eines heutigen Kabarettisten vergleichen können: Kaum jemand kä- me wohl auf die Idee, dessen Programm in gedruckter Form dem Auftritt selbst vorzuziehen. (Wenn doch, dann sollte man sich vielleicht nach einem neuen Lieblingskabarettisten umsehen ...) Gestik, Mimik, Interagitation zwischen Künstler und Publikum, Ge- sang mit musikalischer Umrandung - all das, was in Addition zum Text erst den gelungenen Auftritt ausmacht, würde schließlich verlorengehen.

Ähnlich werden wohl die mittelalterlichen Lyriker und Künstler agiert haben - schließlich mussten sie unterhalten - gut unterhalten - um ihr Brot zu verdienen. Als Berufskünstler haben sie wohl Auge oder Ohr für die Bedürfnisse ihrer jeweiligen Zuhörerschaft ent- wickelt und ihren Vortrag dementsprechend anpassen und individuell gestalten können. Ein spöttelnder Spruch über den ärgsten Widersacher des Hausherren wird da allemal gut angekommen sein - allerdings verlangte dies auch eine entsprechende Vorber ei- tung und einen waches Auge für Entwicklungen und politische Verhältnisse seitens des Sängers...

Die Aufführungssituation:

Wie wird man sich nun den Auftritt eines bekannten Sängers vorstellen dürfen? Wie erwähnt, fand der Künstler in der hohen Zeit der Minne sein Publikum ausschließlich am Hofe. Doch wird solch ein Vortrag sicher kein alltägliches Ereignis dargestellt haben. Wohl nur bei besonderen Anlässen wie Festen, etwa zu Pfingsten, bei Schwertleiten oder Hoftagen, wurden Künstler engagiert, um zu unterhalten. Leider gibt es in der erhaltenen zeitgenössischen Literatur kaum Beschreibungen derartiger Versanstaltungen, die ausreichend ins Detail gehen würden um eine exakte Reproduktion derartiger Abende zu ermöglichen.

Jedenfalls konnte der Sänger bei seiner adeligen Zuhörerschaft eine gewisse literarische Vorbildung voraussetzen. Viele der Werke waren dem Publikum inhaltlich bekannt und so war es möglich, dass der Vortragende jeweils nur bestimmte Ausschnitte davon wiedergab, ohne dass der Sinnzusammenhang verlorenging. Ja, er wird sich bei der Gestaltung des Abends möglicherweise an den Wünschen seines Publikums orientiert, auf Zurufe reagiert haben: Er musste in der Lage sein, bestimmte Stellen eines längeren Werkes bei Bedarf sofort verfügbar zu haben, Strophenreihenfolgen abzuändern und Inhalte der jeweiligen Zuhörerschaft anzu- passen, (Gerüchteweise soll es ja heutzutage auch noch Aufführungen geben, bei denen das Publikum Einfluss auf den Spielver- lauf nehmen und die mehrfache Wiederholungen gewisser Szenen - Kopf ab und dergleichen - einfordern kann!) Bedenkt man zu- dem noch, dass bei Feierlichkeiten durchaus auch mehrere Sänger nacheinander auftraten, dann konnte ein bestimmtes Lied je nach Aufführungssituation und Reihenfolge völlig unterschiedlich wirken und damit jeder Abend ganz einzigartig werden.

Erst die Art, wie der Künstler seine Werke aufführte, gab diesen Lebendigkeit und Sinn. Manches blieb im Text ungesagt, wurde jedoch durch Zeichen, etwa durch Requisiten verdeutlicht. Beispielsweise konnte ein Kreuzzeichen am Mantel des Sängers der Zuhörerschaft signalisieren, sich in der Erzählerrolle nun einen Kreuzritter vorzustellen, obwohl dies im Liedtext nicht explizit zur Sprache kommt. Dennoch wusste jederman, der den Vortragenden sah, in welchem Zusammenhang der Text zu stellen war.

Man ist sich heutzutage einig, dass derartige Vorträge in gesungener Form mit Musikbegleitung dargeboten wurden. Meist war es der Dichter-Vortragende selbst, der sich begleitete, doch konnten durchaus auch größere Ensembles, etwa mit Bläsern, zum Ein- satz kommen. Leider fehlt für die meisten der erhaltenen deutschsprachigen Liedtexte, wie sie uns etwa in den großen Sammel- handschriften (Große Heidelberger Liederhandschrift - auch Codex Manesse -, Weingartner Liederhandschrift, ...) die Melodie, in der diese Lyrik dargeboten wurde. Selbst in den wenigen Fällen, in denen sich die Melodie erhalten hat (so etwa für die in der Jenaer Liederhandschrift überlieferten Sangspruchdichtungen), wissen wir kaum etwas über Takt und Rhythmik, in der die Werke aufgeführt wurden. Dies liegt einerseits an der Notation der Melodien, andererseits daran, dass stets nur die Gesangsstimme auf- gezeichnet wurde, Aufzeichnungen für die instrumentale Begleitung jedoch stets fehlen. Manchesmal stammen die wenigen uns erhaltenen Notationen für einen Text auch aus Handschriften, welche in bedeutend jüngerer Zeit entstanden sind als das Werk selbst.

Ausschnitt der Melodienotation für Neidharts Sommerlied 23 aus einem Manuskript des 15. Jahrhunderts

Zusammenfassend kann man wohl guten Gewissens behaupten, dass sich der adeligen Zuhörerschaft mittelalterlicher Minnesänger, Sangspruchdichter, Erzähler von Heldenepen wohl ein Erlebnis ganz anderer Dimension bot, als wir erfahren, wenn wir vor der auf- geschlagenen zweisprachigen Reclam-Ausgabe sitzen. Vergleichbar ist die Situation vielleicht mit der des Opernfreundes, der, statt einer Tosca-Aufführung unter dem lauen Abendhimmel Veronas zu lauschen, das Libretto lesen darf. Zumindest sollte das Gesagte ein Hinweis darauf sein, mittelhochdeutsche Texte laut zu lesen; schließlich waren sie niemals zur stummen Lektüre bestimmt. Lasst euch dabei nicht durch die erstaunten Blicke der anderen Fahrgäste in der Straßenbahn irritieren. Schließlich bietet ihr ihnen ein Erlebnis, dass zumindest in Ansätzen der mittelalterlichen Vortragspraxis nahekommt. Und wenn ihr schließlich noch eine gute Gesangsstimme besitzt, dann ...

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