Sælde und êre - Buchausgaben von Klassikern der mittelhochdeutscher Literatur

Hier mögt ihr nun einiges über Themen und Motive erfahren, welche sich mittelalterlicher Literatur häufig finden ...

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Gottfried von Straßburg - Tristan und Isold

... dâ was doch man bî wîbe,
sô was ouch wîp bî manne:
wes bedorften si danne?

('Tristan und Isold', 16904ff)

Die entspannte Wanderung durch ein abendlich dämmerndes Wien, mit nichts anderem im Sinn, als dort einige erste Weihnachtspräsente auszuspähen und zu erhandeln, kann manchesmal zu unerwarteten Erwerbungen führen, zumal, wenn es sich um die Straßen der Inneren Stadt handelt, durch die man sich treiben, manchmal auch stoßen, lässt. Sind doch dort, in der Umgebung von St. Stephan, mancherlei Buchkrämer niedergelassen - in manchen Gassen gar Tür an Tür - deren Läden dem Bücherfreund Lockung und Bedrohung zugleich sind, so er denn eine gehörige Menge an Talern - ähem, Euros - mit sich trägt.

Zwar war an jenem Abend, der euch diesen Artikel beschert hat, die gehörige Menge der Silberlinge schon zusammengeschmolzen auf ein kümmerliches Häuflein, wir selbst aber fühlten uns wie die schwerbepackten Maultiere der Veneter beim Passgang einst, doch wollten wir vor der Heimkehr noch einen unwiderruflich letzten Blick in den hellerleuchteten Laden eines dieser Verführer wagen. Mit der Absicht, es bei diesem Blicke bleiben zu lassen ...

Die Geschenkausgabe des Insel-Verlages: Schuber und zwei Bände - und jede Menge Lesespaß

... und doch vermochten wir nicht zu widerstehen. So also ist es ganz anders gekommen, zum Glück auch - unseres und auch eures -, denn darum können wir euch voller Stolz eine neue Erwerbung für unsere Bibliothek prässentieren, eine Buchausgabe, die ob ihrer Prächtigkeit hier unbedingt Erwähnung finden soll.

Und eins lasst euch gesagt sein: Wir mussten große Gefahren auf uns nehmen, um dies Werk zu ersteigern - fast hätten wir das liebliche Weib und die Kindelein einsetzen müssen für den Preis, wären da nicht in einer versteckten Falte noch ein paar der Taler verborgen gewesen, Silber, dazu gedacht, den Wichten die Bäuchlein zu füllen -, und es endlich, nach langer Irrfahrt selig lächelnd zwischen den Parzival und den Wigalois ins heimische Regal zu schieben.

Es handelt sich um eine Geschenkausgabe des 'ersten, großen Liebesromanes' in der Bearbeitung des seligen Meisters Gottfried von Straßburg, vormals herausgegeben von Walter Haug und Manfred Günter Scholz als Band 10 und 11 der Bibliothek des Mittelalters des Deutschen Klassikerverlages und neuerdings frisch erschienen im Jahr 2012 im Insel Verlag.

Wer nun andere Erscheinungen dieser Verlage kennt - etwa die Ausgabe des deutschen Prosa-Lanzelots, der wird wissen, wofür der Name steht: Für Bücher, deren Preis ein stattlicher ist, deren Ausstattung aber und deren Qualität jedes Bücherfreundes Herzen höher schlagen lässt. So auch bei dieser Tristan-Ausgabe, die wir euch darum auch ans Herz legen wollen.

100,80 Euros (in Deutschland 98 Euros, die Eidgenossen haben 129 ihrer Franken hinzublättern) sind ein stolzer Preis. Wofür man aber insgesamt beeindruckende 2030 Seiten als Gegenleistung erwirbt, aufgeteilt auf zwei gediegene Bände im Leineneinband, die sich den Platz im liebevoll gestalteten Schuber teilen, fast so eng aneinandergeschmiegt wie einst Tristan und Isolde im gemeinschftlichen Bett. Und diese Seiten haben es in sich.

Wird doch nicht nur der mittelhochdeutsche Text geboten, mit parallelgeführter neuhochdeutscher Übersetzung - was den ganzen ersten Band benötigt mit seinen 1089 Seiten -, nein, solches würden wir schon von andere Stelle kennen. Die Besonderheit der besprochenen Ausgabe liegt darin, dass Gottfrieds Version des Tristanstoffes im zweiten Band auch jener Text zur Seite gestellt wird, der ihm als Quelle diente, 'Tristran et Ysolt' des Thômas von Britanje, wobei der Zusatz 'von Britanje' ob seiner Mehrdeutigkeit in der heutigen Rezeption meist weggelassen wird.

Die Version des Thomas also, hier neben der deutschen Übersetzung auch im anglonormannischen Original abgedruckt, lässt den Vergleich ebenso zu, wie das Weiterlesen bis zu ihrem bitteren Ende - ist doch Gottfrieds Ausformung, wie bekannt, Fragment geblieben. Oder doch nicht? Denn in den über 600 Seiten einnehmenden Kommentaren wird mancherlei These der neuesten Forschung wiedergegeben, so auch der Streit, warum die Geschichte bei Gottfried dort endet, wo sie endet. Tod des Autors? Absicht, Scheitern am Stoff und Resignation, oder auch die Gefahr, die sein, manch kirchlichen Zeitgenossen provozierender, Text in den Jahren der Ketzerurteile von Straßburg 1211/12, für ihn selbst bedeuten mochte?

Warum konnte Isold das Gottesurteil bestehen, warum deckte Gott die Lüge? Warum kritisierte Gottfried an keiner Stelle das ehebrecherische Verhältnis der beiden Liebenden? Eine Seite um die andere fesselt da und lädt zum neuerlichen, aufmerksameren Lesen des Originaltextes ein, eins ums andere Mal öffnet der Kommentar die staunenden Augen.

Gute Freundinnen zeichnen sich wodurch aus? Selbstverständlich dadurch, dass Brangäne, die eine jünger Verwandte der Isolde ist, in der Hochzeitsnacht zwischenzeitlich den jungfräulichen Platz der nicht mehr ganz jungfräulichen Isolde in Markes Bett einnimmt. Sie spart dieser damit eine Menge Ungemach, denn Marke bemerkt den Betrug nicht, was auch nicht Wunder nimmt ob der vorangegangenen Feierlichkeiten. Isolde dankt es Brangäne übrigens später, indem sie diese, wegen ihrer Mitwisserschaft um das verbotene Verhältnis der Liebenden, ermorden lassen will.

Neben Thomas Text fehlt auch das erst in jüngerer Zeit aufgefundene Cambridge-Fragment nicht, ebensowenig wie ein Namensverzeichnis, ein Register zum Stellenkommentar, ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Inhaltsverzeichnis. Genug Stoff also, um die bevorstehenden Winterabende mit einem Gläschen (Glüh?)Wein, Gottfrieds tragischer Liebesgeschichte und einer ausreichenden Menge an Taschentüchlein zu verbringen.

Und was, lieber Leser, der du vielleicht eine heimlich Angebetete besitzt, die noch nichts von deinem schmachtenden Verlangen ahnt, wäre besser geeignet als kleines Präsent, um ihr dein Sinnen zu entwirren, als die Geschichte von Tristan und Isold? Noch ein Tränklein gebraut, wie wir in unserem Kurs über Liebessachen gelehrt, gemeinsam getrunken und gelesen und dann ... nun dann achtet darauf, dass euch keine Lauscher im Baum erspäht, bei eurem fröhlich Schaffen, denn nur so vermeidet ihr die Eisenprobe. Oder euch als gemeinsames Bildnis wiederzufinden im Netz ...

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