Saelde und Ere - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Bestiarium: Der Drache Pfetan im Wigalois

Ein gar schreckliches Untier - Drachenabbildung aus Conrad Gessners Schlangenbuch, im Nachlass erschienen 1587

Alle kennen wir sie bestens: Die Schreckgestalten, Monster, Untiere, wie sie uns im modernen cinemastischen Fantasyepos und (soferne noch gelesen) in neuzeitlicher Gruselliteratur zuhauf begegnen, bei ihrem liebsten Geschäfte - nämlich zu bespähen, zu beschleichen, zu meucheln und zu metzeln. Soviele dieser digitalisierten Bösewichter finden wir da, dass wir uns eins ums andere Mal gelangweilt abwenden und uns in jene glücklichen Zeiten zurückversetzt sehnen, in denen solch schurkisches Getier keine reine Imagination darstellte, sondern tatsächlich noch über Gottes Erde wandelte, um je nach Verfügbarkeit blökende Schäfchen oder kreischende Jungfrauen zu verspeisen ...

Aber wenn diese Zeiten auch vergangen sind, so wollen wir von Sælde und êre euch, unseren Lesern, zur Entschädigung dafür, ein besonderes (Grusel-)Service liefern: Wir schildern aus originaler Literatur aus eben jenen Tagen, sozusagen in Form von zuverlässigen Erlebnisberichten erster Hand, wie die Ungeheuer, denen die stets tapferen Rittersleut des mittelhochdeutschen Mittelalters gegenüberzutreten hatten, nun tatsächlich aussahen (und glaubt uns, diese waren viel schrecklicher, als alles was ihr popcornkauend bisher erblickt habt - weil nämlich echt! - so versichern's uns unsere Gewährsleute). Dies soll in Form einer äußerst schrecklichen Serie von Berichten geschehen, in denen wir die Zeugen jener Zeit zu Wort kommen lassen. Also macht euch bereit, zitternd und nägelbeißend in den ersten Artikel unseres neuen Bestariums einzutauchen ....

Und was oder wer wäre da besser geeignet als der furchtbare Drache Pfetan, mit dem es Wigalois, der wackerer Gaweinssohn feenblütiger Abstammung, im Zuge seiner Aventüren zu tun bekommt. Also nun, eingetaucht ins Abenteuer und lasst euch schildern, womit unser Held es gleich zu tun bekommt:

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Wigalois (5020ff.)

...
Als er den Drachen deutlich sah,
dachte er in seinem Herzen,
dass eine so ungeheure
Kreatur kein
Mann wohl jemals zuvor gesehen hatte.
....
Sein Schädel war maßlos groß,
schwarz, behaart, sein bloßes Maul
einen Klafter lang, ellenbreit,
vorn spitz, und schnitt
wie ein neugeschliffener Speer.
In seinem Rachen hatte er
lange Zähne wie die (Hauer) eines Ebers.
Breite Hornschuppen
bedeckten ihn überall.
Vom Schädel bis nach unten
stand ihm ein hoher scharfer Grat
wie bei einem Krokodil,
dass damit die Kiele zersägt.
Der Drachen hatte, nach Drachenart,
einen langen Schwanz,
damit hielt er umschlungen
vier anmutige Ritter.
....
Einen Kamm hatte er wie ein Hahn,
nur dass er gewaltig war.
Sien Bauch war grün wie Gras,
seine Augen rot, seine Seite gelb.
Der Drache war rund
wie eine Kerze nach untenhin;
sein scharfer Grat war fahl;
zwei Ohren hatte er wie die eines Maultieres,
sein Atem stank, den er war faulig,
wie bei Aas, das lange Zeit
in der heißen Sonne liegt.
Auch hatte er sehr unförmige
Füße wie ein Greif,
die waren behaart wie die eines Bären;
zwei schöne Fittiche hatte er,
gleich Pfauengefieder.
Sein Hals bog sich nieder
bis aufs grüne Gras;
seine Kehle war ganz aus Knorpeln
wie eines Steinbocks Horn.
Durch ihn verlor mancher sein Leben;
....

Wigalois (5020ff.)

....
Do er den wurm rehte ersach;
in sînem herzen er des jach
daz sô ungehiure
deheine crêatiure
ie gesæhe dehein man.
....
sîn houbt was âne mâze grôz,
swarz, rûch; sîn snabel blôz,
eins klâfters lanc, wol ellen breit,
vor gespitzet, unde sneit
als ein niuwesliffen sper;
in sînem giele hêt er
lange zene als ein swîn;
breite schuopen hürnîn
wâren an im über al,
von dem houbet hin ze tal
stuont ûf im ein scharfer grât,
als der kokodrille hât,
dâ er die kiele kliubet mit;
der wurm hêt nâch wurmes sit
einen zagel langen;
dâ mit hêt er bevangen
vier rîter lussam,
....
einen kamp hêt er als ein han,
wan daz er ungevüege was;
sîn bûch was grüene alsam ein gras,
diu ougen rôt, sîn sîte gel;
der wurm der was sinwel
als ein kerze hin zetal;
sîn scharfer grât der was val;
zwei ôren hêt er als ein mûl;
sin âtem stanc, wand er was vûlm
wirs dan ein âs daz lange zît
an der heizen sunnen lît;
ouch hêt er vil unsüeze
als ein grîfe vüeze,
die wâren ruch als ein ber;
zwei schoeniu vetiche hêt er
gelîch eins pfâwen gevider;
sîn hals was im vil nider
gebogen ûf daz grüene gras;
sîn drozze gar von knurren was,
als ein steinbockes horn;
von im was manic lîp verlorn;
....

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Anmerkungen:

Wigalois? Ah, recht so - ihr erinnert euch. Nicht? Auch gut, denn das Büchlein gibt es immer noch zu erwerben. Jedenfalls brauchen wir hier nicht mehr allzuviele Worte zu verlieren über diesen (hundertprozentig wahren?) Abenteuerbericht, denn Einiges haben wir schon an dieser Stelle dargelegt.

Allenfalls bemerkt sei, dass es kaum eine Stelle in der mittelhochdeutschen Literatur gibt, die sich ausführlicher der Schilderung solch heimtückischer Schuppentiere widmet - ein guter Grund mehr, unser Bestarium ausgerechnet mit diesem Schurken beginnen zu lassen, der - so ehrlich muss man sein - schon recht beeindruckend wirkt. Gut, der stinkende Atem - das müsste nun wirklich nicht sein ...

Wer sich allerdings der besonderen Gefährlichkeit dieses Drachen klar werden will, für den wollen wir noch den Hinweis geben, dass es sich bei diesem Wurm nicht um ein gewöhnliches, sozusagen alltägliches Monster handelt - was für einen Helden wie unserem Gawainssprössling nebstan auch keine besondere Herausforderung darstellen würde. Nein, Pfetan ist 'tievels bot' , also ein Teufelsbote - oder gar der tievel selbst.

Klar, dass es dazu mehr bedarf als eines Schwertes, um diesen Kampf zu bestehen. Und so schickt Wirnt seinen Helden gleich mit sechs wunderbaren Gegenständen in die Auseinandersetzung: Brot und Brustpanzer, den unüberwindlich machenden Gürtel des Feenritters Joram und - in christliche Dimension verweisend - Brief gegen Zauberei, Lanze und Blüte. Wigalois ist also einerseits Minneritter, andererseits aber zugleich ein von Gott gesandter Kämpfer gegen das Böse. Da versteht es sich, dass dem Kampf ein inniges Bittgebet vorangeht ...

Aber ob das alles reichen wird, das stinkende Scheusal zu zwingen? Ihr möchtet es wissen? Nun, dann müsst ihr warten, bis wir's euch eines Tages verraten wollen. Oder aber ihr sagt der Freundin für den Abend ab (oder dem Freund) und beginnt das Abenteuer ganz von vorn. Alternativ könntet ihr die Liebste bitten, euch bei der Lesung zu begleiten, vorzugsweise jener der gruseligsten Stelle - damit sie sich anschließend auch recht eng an euch schmiegen mag ... aber Vorsicht mit dem engen Schmiegen - denn da hätten wir noch die Mär vom Waldweib Ruel in der Hinterhand - aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte ...

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