Diu trunkenheit tuot grôzen schaden
Wie oft lesen wir doch davon, wie schwer beziehungsweise gar unmöglich es für uns Heutige doch wäre, sich in die Köpfe mittelalterlicher Menschen zu versetzen, ihr Tun und Handeln zu verstehen. Zu unterschiedlich wären Mentalität und Denkweise der Damaligen gewesen, unverständlich ihr Handeln, oftmals grausam und von archaiischen Gefühlen geleitet. Schließlich hätte doch erst die Renaissancezeit einen neuen Typ von Mensch hervorgebracht und mit ihm den Aufbruch in ein moderneres, aufgeklärtes, ins lichte Zeitalter ...
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Die Trunksucht richtet großen Schaden an
Die Trinksucht richtet großen Schaden an,
sie überhäuft die die Seele mit Sünde und Schande.
sie macht manchen Mann
bei Gott und den Leuten verhasst.
Die Trunksucht macht aber noch mehr,
sie schadet dem Besitz
und schadet zugleich der Gesundheit.
sie macht stumm und blind
sie verdummt und macht manchen lahm.
Weil sie nun Seele, Leib und Ansehen tötet,
und den Besitz nimmt und noch mehr Schaden anrichtet,
wie soll man da denn benennen,
der ihr zu allen Zeiten anhängt?
'Herr Trunkenbold, Herr Trunkenschlund'
so nennen ihn gewisslich
Frauen und Männer.
Diu trunkenheit tuot grôzen schaden
Diu trunkenheit tuot grôzen schaden,
si tuot di sêle sünden und schanden überladen,
si machet manegen man,
daz im Got unt die liute werden gram.
Diu trunkenheit tuot dannoch mê,
si schadet an dem guote
unt tuot dâ bî dem lîbe wê,
si stummet unde blendet,
si toeret unde machet manegen lam.
Sît daz si toetet sêle, lîp unt êre
unt benimt daz guot unt prüevet schaden noch mêre,
wie sol man in heizen dannen,
der in wil volgen zaller stunt?
'her trunkenbolt, her trunkenslunt'
sus heizt er wol
von wîben unt von mannen.
Einige Gedanken:
Natürlich finden wir in den Quellen genügend Belege dafür, dass nicht alles an dieser Behauptung so weit hergeholt sein kann. Wieviele von uns vermögen denn etwa noch so bedingungslos auf die jenseitige Belohnung zu vertrauen beziehungsweise die für allfällige Vergehen anstehende Bestrafung zu fürchten? (Nicht dass diese Überzeugung den mittelalterlichen Machtmenschen allezeit zu gottesfürchtigem Leben verleitet hätte; immerhin war man aber stets bestrebt, sich rechtzeitig vor dem auch damals schon unvermeidlichen Ableben sich eine Generalamnestie in Form der Beichte zu holen.)
Auch die rauschartigen Gewaltexzesse, in die, glaubt man den Chronisten, die damaligen Protagonisten in schöner (oder hässlicher?) Regelmäßigkeit verfielen, die Progrome gegen gewisse Gruppierungen, Greuel, wie Kopfabschlagen, Verstümmelungen, wären ja heutzutage nicht mehr ... ähem, also ... nun gut, vielleicht gibt es doch mehr an Gemeinsamkeit als wir uns im ersten Moment zugestehen würden.
Speziell auch dann, wenn wir die weltgeschichtlich bedeutsamen Ereignisse, all die Schlachten und Eroberungen hinter uns lassen und stattdessen die 'kleinen' Ereignisse des damaligen Lebens näher betrachten. Genügt nicht schon ein Blick auf unsere Mittelhochdeutsch-Überblicksseite, um festzustellen, wie wichtig den damaligen Dichtern die Minne war? In ihren Gedichten und Werken finden sich Heimlichkeiten, Trennungsschmerz, Wiedersehensfreude - hat sich daran, hat sich an der Bedeutung der Liebe denn seitdem wesentliches geändert?
Doch um die Minne soll es diesmal ausnahmsweise nicht gehen. Sondern um ein Laster, dem heutzutage (nicht nur in Tagen, an denen heißer Punsch ausgeschenkt wird) manch einer von uns mehr frönt als ihm gut tut - der Trunksucht nämlich. Die berauschende und unter Umständen (speziell für einäugige Riesen) schlimme Folgen nach sich ziehende Wirkung allzuviel Alkohols findet sich ja bereits in antiken Werken beschrieben.
Und zieht man den obenstehende Scheltstrophe (im sogenannten 'Frau-Ehren-Ton') des Reinmar von Zweter als Beleg heran, dann scheint uns auch der Alkoholismus mit seinen Auswirkungen recht plausibel und durchaus noch zeitgemäß geschildert. So zutreffend, dass wir uns seine Warnung durchaus zu Herzen nehmen können (also habt gut acht vor zu viel und vor allem vor zu regelmäßigem Genuss geistiger Getränke! Auch wenn euch das Bier gleich nach dem Auftehen das Zittern nehmen mag ...) Ja, in manchen menschlichen, allzumenschlichen Eigenheiten scheinen wir uns weniger zu unterscheiden als wir uns das zugestehen wollen ...
Solche Strophen sind damals übrigens recht häufig anzutreffen - wie heutzutage auch die Warnungen vor den schädlichen Auswirkungen von (übermäßig genossenem) Alkohol. Scheinbar haben zwar alle Zeiten ihre Besonderheiten - weisen aber bei genauerem Hinsehen stets auch gemeinsame Züge auf; schließlich sind es immer Menschen, die Geschichte, ob nun große oder kleine, machen ...
Über den erwähnten Autor haben wir bereits an anderer Stelle einige Zeilen hinterlassen, wir wollen Wiederholungen vermeiden; ihr mögt dort mehr über diesen vermutlich als fahrender Sänger durch die Lande tourenden Dichter erlesen.
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