Saelde und Ere - Arbeiten an Texten

Übersetzen mittelalterlicher deutscher Texte - Teil 2

Kriemhilds Falkentraum, Ausschnitt aus der Handschrift C des Nibelungenliedes, 2. Viertel des 13. Jhdts.

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Welche Möglichkeiten gibt es, um mittelhochdeutsche Texte in unsere modernes Deutsch zu übertragen?

Durch die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur lässt sich - neben dem rein literarischen Genuss - manches Wissen über Le- bensformen und Denkweisen der damaligen Zeit gewinnen. (Und ganz nebenbei erfährt der Leser zudem noch, woher die Autoren fantastischer Gegenwartsliteratur einen Gutteil ihrer Ideen 'organisieren'.) Darum wird wohl für jeden Interessierten einmal die Stunde schlagen, in der er sich entschließt, zu einem der wohlbekannten Werke zu greifen - sei es nun das wuchtig-tragische Nibelungenlied, der tiefsinnige Parzival, der listige Reineke (oder mittelhochdeutsch Reinhart) Fuchs, Tristans Beschäftigung mit Isolde (eigentlich beiden Isolden) oder Ähnliches.

Doch spätestens im Buchgeschäft beginnt der wild entschlossene, zukünftige Experte mittelalterlicher Literatur zu erkennen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, die originalen Texte in unsere Gegenwartssprache zu übertragen - dann nämlich, wenn er un- terschiedliche Ausgaben des gewünschten Werkes entdeckt, die Übersetzungen vergleicht und staunend bemerkt, dass sich diese teilweise doch sehr stark unterscheiden. Für welche Textedition also sich entscheiden? (Sollte allerdings die Buchhandlung nur ge- nau eine Ausgabe aufliegen haben, erübrigt sich die schwierige Auswahl. Oder aber man verzichtet überhaupt auf einen zwei- sprachigen Text und entschließt sich sofort für die Lektüre im mittelhochdeutschen Original - doch ist dies wohl eher die Lösung für den 'Hardcore'-Mediävisten bzw. -Germanisten, nicht jedoch für den Normalsterblichen ...)

Warum finden sich nun unterschiedliche Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen für ein und dasselbe Werk? (Lassen wir da- bei die Frage unterschiedlicher Handschriften vorerst einmal außer Acht, betrachten wir also nur die Übersetzungen, die aus der- selben Handschrift erzeugt wurden.) Die Antwort ist einfach: Weil sich die Zeiten und damit auch die Denkweisen geändert haben, der Übersetzer nicht über dasselbe Wissen verfügt wie der Autor des Werkes und - nicht zuletzt - weil sich die Sprache verändert hat. Sowohl was die Bedeutung von Begriffen betrifft, als auch die Grammatik. (So kannte etwa das Mittelhochdeutsche nur eine Vergangenheitsform, in unserer modernen Sprache sind es deren drei.)

Ideal wäre eine Übersetzung, welche die Form des Originaltextes in allen seinen Facetten erhält - also etwa den Inhalt exakt in der Bedeutung wiedergibt, wie dies vom Autor beabsichtigt wurde (was schwierig ist, da man bei diesem im Zweifelsfall ja leider nicht mehr nachfragen kann), und auch die Sprachmelodie, eventuelle Reimung, usw. erhält. Dies ist aber so nicht möglich - und schon haben wir die Antwort darauf, warum im Geschäft drei Werkausgaben mit unterschiedlichen Übersetzungen vor uns liegen. Die je- weiligen Übersetzer haben eben unterschiedliche Aspekte bei der Übersetzung für besonders wichtig erachtet.

Die Fachleute unterscheiden bei der Übertragung von älteren Texten in die Gegenwartssprache grob zwischen Übertragungen und Umdichtungen . Weitere Unterteilungen dieser Begriffe sollen dem Leser an dieser Stelle erspart bleibe, doch sei an dieser Stelle noch soviel gesagt, dass Übertragungen formmäßig und/oder inhaltlich dem Original näher stehen als die Umdichtung. (Als Umdich- tung wäre im weitesten Sinne auch einen Roman zu verstehen, in dem beispielsweise die Ereignisse des Nibelungenliedes aus der Sicht Hagens beschrieben würden - mit all seinen (ihm vom Romanautor untergeschobenen) Beweggründen, ...)

Schluss nun mit der Theorie. Nach soviel des staubtrockenen Textes soll nun ein Beispiel zur Erklärung der unterschiedliche Vari- anten der Testübertragung herhalten, nämlich der berühmte Falkentraum der Kriemhild aus dem Nibelungenlied, wobei der mittel- hochdeutsche Text der Handschrift B zugrunde liegt:

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Kriemhilds Falkentraum

Übertragung Reclam Bd.644

Mitten in dieser höfischen Pracht hatte Kriemhild einen Traum: sie sah, wie sie einen schönen, starken, und wilden Falken abrichtete, den ihr plötzlich zwei Adler schlugen und zerfleischten. Das sie dies mitansehen musste! Kein größeres Leid hätte ihr auf der Welt zustoßen können.

Den Traum erzählte sie ihrer Mutter Ute, die der geliebten Tochter keine günstigere Deutung geben konnte: "Der Falke, den du aufziehst, das ist ein Edelmann.
Wenn Gott ihn nicht beschützt, wirst du ihn schnell verlieren müssen."

"Was redet ihr von einem Mann, liebste
Mutter?
Auf die Liebe eines Kriegers will ich immer verzichten. Denn ich will so schön bis an meinen Tod bleiben und niemals aus Liebe zu einem Mann Leid erfahren.

"Nun widersprich nur nicht zu heftig", antwortete ihre Mutter,
"wenn du jemals im Leben glücklich wirst, so geschieht dies allein durch die Liebe eines Mannes. Du wirst eine schöne Frau, wenn dir Gott einen vorzüglichen Ritter zum Mann bestimmt.

"Bitte sprecht nicht weiter, Herrin", sagte Kriemhild. Es hat sich an vielen Frauen oft gezeigt, wie schließlich Liebe mit Leid belohnt wird. Ich werde beidem aus dem Weg gehen, dann kann mir niemals etwas Schlimmes zustoßen."

Übertragung nach K. Simrock

In ihren hohen Ehren träumte Krimhilden,
Sie zög einen Falken, stark, schön' und wilden;
Den griffen ihr zwei Aare, dass sie es mochte sehn.
Ihr konnt auf dieser Erden größer Leid nicht geschehn.

Sie sagt' ihrer Mutter den Traum, Frau Uten:
Die wusst ihn nicht zu deuten als so der Guten:
"Der Falke, den du ziehest, das ist ein edler Mann:
Ihn wolle Got behüten, sonst ist es bald um ihn getan."

"Was sagt ihr mir vom Manne, vielliebe Mutter mein?
Ohne Reckenminne will ich immer sein;
So schön will ich verbleiben bis an meinen Tod,
Dass ich von Mannes Minne nie gewinnen möge Not."

"Verred es nicht so völlig", die Mutter sprach da so;
"Sollst du auf Erden von Herzen werden froh,
Das geschieht von Mannesminne: du wirst ein schönes Weib
Will Gott dir noch vergönnen eines guten Ritters Leib."

"Die Rede lasst bleiben, vielliebe Mutter mein.
Es hat an manchen Weiben gelehrt der Augenschein
Wie Liebe mit Leide am Ende gerne lohnt:
Ich will sie meiden beide, so bleib ich sicher verschont."

Mhdt. Originaltext

HS B, Strophen 13 - 17

In disen hôhen êren tróumte Kriemhíldè,
wie si züge einen valken, starc, scóen und wíldè, den ir zwêne arn erkrummen. daz si daz muoste sehen,
ir enkúnde in dirre werlde leider nímmér gescehen.

Den troum si dô sagete ir muoter Úotèn.
sine kúndes niht besceiden baz der gúotèn:
"der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel
man.
in welle got behüeten, du muost in sciere vloren hân."

"Was saget ir mir von manne, vil liebiu muoter mîn?
âne recken mínne, sô wil ich immer sîn.
sus scoen' ich wil belîben unz an mînen tôt,
daz ich von mannes minne sol gewinnen nimmer nôt.

"Nu versprích ez niht ze sêre", sprach aber ir mouter dô.
"soltu ímmer herzeblîche zer werlde werden vrô, daz gescíht von mannes minne. du wirst ein scoene wîp,
ob dir noch got gefüeget eins rehte guoten riters lîp."

"Die rede lât belîben", sprach si, "frouwe mîn.
ez ist an manegen wîben vil dicke worden
scîn,
wie líebé mit leide ze jungest lônen kan.
ich sol si mîden beide, sone kán mir nimmer missegân."

Umdichtung - Deutsche Götter- und Heldensagen, Gondrom Verlag

Einstmals trat Mutter Ute früh am Morgen in das Gemach ihrer Tochter und fand sie verstört und traurig. Sie forschte nach der Ursache ihrer Betrübnis. Da erzählte ihr die Maid, ihr habe geträumt, sie habe einen edlen Falken aufgezogen, der ihr gar liebgeworden sei. Als er aber einstmals aufgeflogen, hätten ihn zwei tückische Adler, aus einer Felsenkluft hervorbrechend, vor ihren Augen erwürgt. "Mein Kind", sagte die Mutter ernst, "der Falke ist der edle Held, dem du deine Minne zuwenden wirst. Die Adler aber bedeuten zwei mordsüchtige Recken, die ihn mit arger List zu töten suchen. Möge Gott dir seinen Beistand leihen, daß du die mörderischen Anschläge vereitelst." ? "Mutter", sagte Kriemhild, "rede mir nicht von Männern. Es ängstigt mich, wenn ich unter sie treten muß. Gäbe es doch nur gar keine Männer in der Welt, da würde man nichts von Streiten, von Krieg und Blutvergießen hören." ? "Wer weiß, versetzte Frau Ute lächlend. "Weiber vergießen durch ihre Zungen oft mehr Blut und schlagen tiefere Wunden als Männer mit ihren Schwertern. Aber auch für dich wird die Stunde kommen, da du einem edlen Recken die Hand zum Bunde reichst." ? "Niemals!" rief die Jungfrau. "Mutter, du ängstigst mich mehr als der schlimme Traum."

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Es ist interessant und manchmal sogar erheiternd, die verschiedenen Übertragungen zu dieser berühmten Stelle des Nibelungen- liedes querzulesen. Im ersten Moment scheinen die Differenzen ja nicht allzu bedeutungsvoll, doch bei genauerer Betrachtung tun sich doch einige wesentliche Unterschiede auf.

Da gibt es einmal die Reimübertragung eines Karl Simrock. Simrock (1802 - 1876) trug durch seine Übertragungen althochdeutscher Dichtungen ins Neuhochdeutsche entscheidend zur Rezeption der mittelalterlichen Dichtung in der Romantik bei. Typisch ist der bewusst altertümliche Stil für die verwendeten Ausdrücke, der neben der Beibehaltung der Reimung dafür sorgen soll, die Sprach- melodie des Originals möglichst zu erhalten. Dies führt hin und wieder zu eigenartig klingenden Konstruktionen - zumindest für unsere Ohren, doch gibt diese Fassung einen Hauch einer Idee davon, welch Hörgenuss das Original zu vermitteln vermag. Dass bei einer derartigen Übertragung der Formerhaltung gewisse inhaltliche Zugeständnisse gemacht werden müssen, versteht sich.

Andererseits verzichten moderne Übertragungen, wie etwa die in der zweisprachigen Ausgabe des Reclam-Verlages angeführte, innerhalb einer Strophe weitestgehend auf die getreue Beibehaltung der Form; hier liegt das Hauptanliegen auf einer möglichst in- haltsgenauen Wiedergabe. Dies wird neben dem Abgehen von der Reimung noch durch einen zusätzlichen Kommentarteil unter- stützt. Dennoch gibt es manche Stellen, die sich unterschiedlich interpretieren lassen: Simrock spricht von einem edlen Mann, die moderne Reclam-Übertragung vom Edelmann. Nun ist es aber so, dass ein Edelmann nicht unbedingt edel sein muss ... (siehe dazu die Erläuterungen zum mittelhochdeutschen Begriff edel)

Das letzte Übertragungsbeispiel demonstriert schließlich, wie frei Um- oder Nachdichtungen mit einem Stoff umgehen: Dass Männer Kriemhild soviel Angst machen, dass sie gar nicht mehr nicht unter sie treten mag, lässt sich aus der Originalvorlage schwerlich herauslesen. Und den Wunsch nach einer männerlosen Welt findet sich auch nur als eigenwillige Interpretation in dieser Übertra- gung und sonst nirgends - Gott sei Dank, denn ein Nibelungenepos ohne Männer würde wahrscheinlich weniger blutrünstig, aber auch um ein gutes Stück langweiliger sein ;-)

Zum Abschluss möge der Leser noch einmal seinen Blick auf die Abbildung am Seitenanfang werfen: Der dargebotene Textaus- schnitt aus einer Originalhandschrift des Liedes (Handschrift C) beeinhaltet genau jenen Falkentraumsequenz, von der hier die Rede ist. Wer sich die Mühe macht, wird erkennen, dass auch das Studium der Originalhandschriften bezüglich der Lesbarkeit noch einiges an zusätzlichen Tücken zu bieten hat. Doch darüber mehr zu einem späteren Zeitpunkt ...

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