Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Originaltexte

So wôl dir, sumerwunne ...

Herr Dietmar von Aist gibt einer Dame die Ehre seines Besuchs, Abbildung aus dem Codex Manesse

Der Sommer klingt aus; die Nächte werden länger, des Morgens liegt der Tau über den Wiesen und das Laub färbt sich bunt. Nun, wir in den Städten bemerken vielleicht gar nicht mehr soviel vom Wechsel der Jahreszeiten - und dennoch beschleicht uns in dieser Zeit manchmal ein leichtes Gefühl des Wehmuts, so als würde mit dem vergangenen Sommer und dem verfließenden Jahr auch ein Stückchen von uns vergehen.

Doch nicht uns Heutigen geht es so - schon in den Liedern unserer Altvorderen findet sich diese Stimmung wieder. Wen wundert's, wann man bedenkt, wie hart der bevorstehende Winter sein konnte, wie lange und schmerzhaft der Abschied vom Liebsten oder der Geliebten ausfallen mochte; wie ungewiss das Warten auf seine Wiederkehr im nächsten Frühjahr. Also ist's hoch an der Zeit, euch ein solch wehmütiges Lied zum Besten zu geben ...

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Wohl dir, Sommerwonne!

Wohl dir, Summerwonne!
Der Gesang der Vögel ist geschwunden,
wie auch der Linden ihr Laub.
Jetzt, wo das Jahr zu Ende geht, trüben sich mir
meine hübschen Augen.
Mein Liebster, du sollst lassen
von anderen Frauen:
Ja, Held, die sollst du meiden.
Als du mich zum erstem Mal sahst,
da erschien ich dir doch
so recht liebenswert und schön:
Daran erinnere ich dich, lieber Mann!

So wôl dir, sumerwunne!

So wol dir, sumerwunne!
daz vogelsanc ist geswunden,
als ist der linden ir loup.
jârlanc truobent mir ouch
mîniu wol stênden ougen.
mîn trût, du solt dich gelouben
anderre wîbe:
wan, helt, die solt du mîden.
dô du mich êrst sâhe,
dô dûhte ich dich zewâre
sô rehte minneclîch getân:
des mane ich dich, lieber man!

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Anmerkungen:

Herr Dietmar von Aist war es - jener Dietmar von Aist, der uns bereits mit seinem wunderschönen Taglied 'Slafest du, friedel ziere' erfreut hat und über den ihr an dortiger Stelle einiges erfahren könnt -, der einer Dame die mahnenden und zugleich rührenden Worte an ihren Liebsten in den Mund gelegt hat. Wenn er es denn war - denn wegen gewisser 'altertümlicher' Züge im Lied - so etwa beim verwendeten Vokabular - wird mancherorts seine Autorenschaft in Frage gestellt.

Wie oft hören wir nicht sagen, wie anders jene Zeit gewesen, wie wenig wir heute das Denken der damaligen Menschen noch verstehen könnten, wo sich doch unsere ganzen Lebensumständen, unsere Weltsicht so stark geändert hat. Und wer würde das schon zu bezweifeln wagen?

Und doch: Vernehmen wir Stimmen aus jener Zeit, wie im obigen Lied, dann kommt uns manches sehr vertraut und gerade darum sehr anrührend vor. Sind die Ängste jener Dame, die in der langen Zeit des bevorstehenden Winters sich um die Treue ihres Liebsten zu sorgen glauben muss, um die vielen Rivalinnen, denen er begegnen mag, nicht auch solche, die uns immer noch und manchmal nicht minder schwach bedrängen. Oder ihre Furcht, in seinen Augen nicht mehr so attraktiv zu sein, wie zu Beginn ihrer Liebe, als er sie das erste Mal gesehen?

Ich weiß, ihr lieben Mägdelein, die ihr diese Zeilen nun lest - ihr werdet laut rufen: 'Ja, genauso sind sie, die Männer diese Schurken!' Aber lasst euch hier sagen: Nicht alle sind so ... zumindest nicht immer ... und wenn, dann ist's nur die Schönheit der Frauen, der sie solcherart Tribut zollen müssen ... Und außerdem, jetzt fällt's mir wieder ein, wir kennen einen, dessen Großcousin einen Freund hat, dessen Onkel ganz anders gewesen sein soll. Soviel zur Verteidigung des männlichen Geschlechts, die durchaus in dieser Schärfe an dieser Stelle notwendig war.

Aber vielleicht lässt sich der Text ja auch ganz anders lesen - als Reflexion über die Vergänglichkeit von Jugend und Schönheit und der Flüchtigkeit menschlichen Daseins. Sei es wie es sei - auf jeden Falle scheint uns das Lied gut als Lektüre für die hereinbrechenden dunkleren Tage geeignet ...

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